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Thema: Helmut Schmidt Di Jan 12, 2010 11:45 am
Helmut Schmidt
Helmut Heinrich Waldemar Schmidt (* 23. Dezember 1918 in Hamburg) ist ein deutscher Politiker (SPD) und war von 1974 bis 1982 der fünfte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.
Ferner war er 1967 bis 1969 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, 1969 bis 1972 Bundesminister der Verteidigung, 1972 Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen, 1972 bis 1974 Bundesminister der Finanzen und leitete kurzzeitig das Auswärtige Amt (17. September 1982 bis 1. Oktober 1982).
Seit 1983 ist Schmidt Mitherausgeber der Wochenzeitung Die Zeit.
* 1 Ausbildung und Wehrdienst * 2 Studium und Beruf * 3 Familie und Persönliches * 4 Partei * 5 Abgeordneter * 6 Ämter und politische Funktionen o 6.1 Senator in Hamburg (1961–1965) o 6.2 SPD-Fraktionsvorsitzender im Bundestag (1966/67–1969) o 6.3 Bundesminister (1969–1974) o 6.4 Bundeskanzler (1974–1982) o 6.5 Besonderheiten des Berufspolitikers * 7 Politische Positionen o 7.1 Verhältnis zur SPD o 7.2 Innenpolitik o 7.3 Gesellschaftspolitik o 7.4 Außenpolitik * 8 Freundschaften * 9 Kunst, Musik, Philosophie und andere Interessen * 10 Ehrungen * 11 Verschiedenes
Ausbildung und Wehrdienst
Nach dem Abitur 1937 an der Lichtwark-Schule in Hamburg leistete Schmidt zunächst seinen Arbeitsdienst ab. 1939 wurde Helmut Schmidt zum Wehrdienst bei der Flakartillerie in Vegesack eingezogen. In dieser Zeit hatte er eine intensive freundschaftliche Beziehung zu Tim und Cato Bontjes van Beek und deren Familie. Als er dann in Berlin eine Offiziersschule besuchte, brach er diese Freundschaft wegen deren Kontakte zur Widerstandsgruppe Rote Kapelle ab.
Von 1941 bis 1942 diente Schmidt als Offizier an der Ostfront und war u. a. an der Blockade Leningrads beteiligt; er erhielt das Eiserne Kreuz 2. Klasse.[1] Anschließend war er bis 1944 als Referent für Ausbildungsvorschriften der leichten Flakartillerie im Reichsluftfahrtministerium in Berlin und in Bernau eingesetzt.
Als Angehöriger des Reichsluftfahrtministeriums wurde Oberleutnant Helmut Schmidt als Zuschauer zu den Schauprozessen des Volksgerichtshofes gegen die Männer des 20. Juli 1944 abkommandiert. Angewidert vom Verhalten des Vorsitzenden Richters Roland Freisler, ließ sich Schmidt von seinem vorgesetzten General von der Zuhörerschaft entbinden.[2]
Seit Dezember 1944 als Batteriechef an der Westfront, äußerte er sich Anfang 1945 während einer Übung auf dem Flak-Schießplatz Rerik an der Ostsee kritisch über Reichsmarschall Hermann Göring und das NS-Regime. Dafür wollte ihn ein NS-Führungsoffizier vor Gericht stellen lassen. Ein Prozess wurde jedoch verhindert, indem zwei vorgesetzte Generäle Schmidt durch ständige Versetzungen dem Zugriff der Justiz entzogen.
Im April 1945 geriet Oberleutnant Helmut Schmidt in Soltau in der Lüneburger Heide in britische Kriegsgefangenschaft. In einem belgischen Gefangenenlager nahm ihm der „Vortrag“ des religiösen Sozialisten Hans Bohnenkamp über das Thema „Verführtes Volk“ im Juni 1945 die letzten „Illusionen“ über den Nationalsozialismus.[3] Am 31. August 1945 wurde er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen.[4]
Nach Gründung der Bundeswehr wurde Helmut Schmidt im März 1958 zum Hauptmann d. R. ernannt. Im Oktober/November 1958 nahm er an einer Wehrübung in der „Reichspräsident-Ebert-Kaserne“ in Hamburg-Iserbrook teil und wurde zum Major d. R. befördert;[5] noch während der Übung wurde er daraufhin mit der Begründung, er sei ein Militarist, aus dem Vorstand der SPD-Bundestagsfraktion abgewählt.
Studium und Beruf
Nach Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft studierte Schmidt in Hamburg Volkswirtschaftslehre und beendete sein Studium 1949 als Diplom-Volkswirt. Er war bis 1953 bei der von Karl Schiller geleiteten Behörde für Wirtschaft und Verkehr der Freien und Hansestadt Hamburg tätig. Hier leitete er von 1952 bis 1953 das Amt für Verkehr.
Seit 1983 ist er Mitherausgeber der Wochenzeitung Die Zeit. Schmidt ist Mitglied des Vereins Atlantik-Brücke, Ehrenpräsident der Deutsch-Britischen Gesellschaft, Ehrenvorsitzender der von ihm selbst mitbegründeten Deutschen Nationalstiftung und Ehrenvorsitzender des ebenfalls von ihm selbst mitbegründeten InterAction Council, einem Rat ehemaliger Staatsmänner und -frauen, den er mit Freunden initiiert hat und dessen Vorsitzender er von 1985 bis 1995 war. 1993 wurde die Helmut-und-Loki-Schmidt-Stiftung (Hamburg) gegründet. 1995–1999 war er Präsident des Deutschen Polen-Instituts (Darmstadt). Sein Privatarchiv wird im Archiv der sozialen Demokratie verwaltet. Schmidt war 1997 einer der Erstunterzeichner der Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten.
Familie und Persönliches
Schmidts Vater Gustav Schmidt (1888–1981) war der uneheliche Sohn eines jüdischen deutschen Kaufmanns und einer Kellnerin. Nach Aussage Helmut Schmidts, selbst ein Protestant, vertuschten er und sein Vater dies durch Urkundenfälschung, sodass der Ariernachweis erteilt wurde.[8] Als „jüdischer Mischling zweiten Grades“ wäre Helmut Schmidt benachteiligt worden; auch seine Verwendung als Offizier der Wehrmacht wäre fraglich gewesen.
In der Öffentlichkeit gab Schmidt diese Zusammenhänge erst 1984 auf Nachfrage bekannt, als Journalisten dies von Valéry Giscard d’Estaing über dessen deutschen Freund erfuhren. In seinen Kindheitserinnerungen (1992) schreibt er, seine Herkunft habe seine Ablehnung des Nationalsozialismus mitbestimmt.
„Der Oberschüler Schmidt, der zum Zeitpunkt der Machtübertragung an Hitler 14 Jahre alt war, wusste, dass er „Vierteljude“ war und als rassisch minderwertig gegolten hätte, wenn dieser Sachverhalt bekannt geworden wäre. Der Hitler-Jugend gehörte er anfangs nicht ungern an; im Sommer 1936 nahm er an einem „Adolf-Hitler-Marsch“ von Hamburg nach Nürnberg zum Reichsparteitag der NSDAP teil. Er wurde kein Nationalsozialist, ließ sich aber zeitweilig von der „sozialistischen“, die Werte der Gemeinschaft beschwörenden Propaganda des Regimes beeindrucken.“
Helmut Schmidt heiratete am 27. Juni 1942 Hannelore Glaser („Loki“). Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor. Sein behindert geborener Sohn Helmut Walter (* 26. Juni 1944) verstarb noch vor seinem ersten Geburtstag (Februar 1945), Tochter Susanne, die heute für den Wirtschaftsfernsehsender Bloomberg TV in London arbeitet, wurde 1947 geboren.[10] Die Schmidts hätten gerne eine größere Familie gehabt. Ehefrau Loki erlitt mehrere Fehlgeburten; auch Enkelkinder haben sie keine.
Im Herbst 1981 erkrankte Schmidt ernstlich, so dass ihm am 13. Oktober 1981 im Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz ein Herzschrittmacher eingesetzt wurde. Zuvor musste der damalige Bundeskanzler aufgrund von Adams-Stokes-Anfällen zweimal wiederbelebt werden.[11]
Schmidt wohnt seit langem in Hamburg-Langenhorn. Einen Zweitwohnsitz haben die Eheleute Schmidt am holsteinischen Brahmsee. Seine Konfession ist evangelisch-lutherisch, er selbst bezeichnet sich allerdings als nicht religiös, sei aber auch kein Atheist.[12] Im Juni 2007 äußerte er in einem TV-Interview in der Sendung „Menschen bei Maischberger“, er „vertraue“ nicht mehr auf Gott, u. a. weil Gott Auschwitz zugelassen habe.[13] Auf die an ihn gestellte Frage, ob er das Amt des Bundeskanzlers gerne ausgeübt habe, antwortete er mit: „Eigentlich nicht sonderlich gern, nein.“ Diese Aussage begründete er damit, dass das Amt des Bundeskanzlers eine sehr große Belastung vor allem für das Privatleben sei.
Partei Helmut Schmidt auf einem Parteitag der SPD in Dortmund, 1976 Der stellvertretende Parteivorsitzende Schmidt beim SPD-Parteitag im April 1982
Unmittelbar nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft 1945 schloss sich Schmidt, nach eigenen Angaben beeinflusst durch den Mitgefangenen Hans Bohnenkamp, der SPD an.[12] Hier engagierte er sich zunächst im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und war 1947/48 dessen Vorsitzender. Von 1968 bis 1984 war Schmidt stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD. Anders als die beiden anderen sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt und Gerhard Schröder war Schmidt nie Bundesvorsitzender seiner Partei.
Als Vorbilder in seiner eigenen Partei bezeichnet Schmidt unter anderem Max Brauer, Fritz Erler, Wilhelm Hoegner, Wilhelm Kaisen, Waldemar von Knoeringen, Heinz Kühn und Ernst Reuter.
Zu seiner Motivation, sich politisch zu engagieren, äußerte sich Schmidt wie folgt:[15]
„Ehrgeiz ist ein Begriff, den ich auf mich nicht anwenden würde, natürlich lag mir an öffentlicher Anerkennung, aber die Antriebskraft lag woanders. Die Antriebskraft war typisch für die Generation, der ich angehört habe: Wir kamen aus dem Kriege, wir haben viel Elend und Scheiße erlebt, im Kriege, und wir waren alle entschlossen, einen Beitrag dazu zu leisten, dass all diese grauenhaften Dinge sich niemals wiederholen sollten in Deutschland. Das war die eigentliche Antriebskraft.“
Abgeordneter
Von 1953 bis zum 19. Januar 1962 und von 1965 bis 1987 gehörte Schmidt dem Deutschen Bundestag an. Nach seinem Wiedereinzug 1965 wurde er sofort stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Von 1967 bis 1969, während der ersten Großen Koalition der Bundesrepublik, hatte er schließlich den Vorsitz der Fraktion inne; das Amt, das ihm, nach eigenen Angaben, in seiner politischen Laufbahn am meisten Spaß gemacht hat. Vom 27. April 1967 bis 1969 leitete er den Fraktionsarbeitskreis Außenpolitik und gesamtdeutsche Fragen.
Vom 27. Februar 1958 bis zum 29. November 1961 war er außerdem Mitglied des Europäischen Parlaments.
Helmut Schmidt ist 1953 und 1965 über die Landesliste Hamburg, 1957 und 1961 als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises Hamburg VIII und danach stets als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises Hamburg-Bergedorf in den Bundestag eingezogen.
Ämter und politische Funktionen
Senator in Hamburg (1961–1965)
Vom 13. Dezember 1961 bis zum 14. Dezember 1965 amtierte Helmut Schmidt unter den Ersten Bürgermeistern Paul Nevermann und Herbert Weichmann als Senator der Polizeibehörde (ab Juni 1962: Innensenator) der Freien und Hansestadt Hamburg. In diesem Amt erlangte er vor allem als Krisenmanager bei der Sturmflut 1962 an der deutschen Nordseeküste in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 Popularität und sehr hohes Ansehen. Er koordinierte den Großeinsatz von Rettungsdiensten, Katastrophenschutz und THW. Daneben nutzte Schmidt bestehende Kontakte zu Bundeswehr und NATO, um auch mit Soldaten, Hilfsgütern, Hubschraubern und Pioniergerät von Bundeswehr und Alliierten schnelle und umfassende Hilfe zu ermöglichen. Schmidt schuf damit ein Vorbild für Einsätze von Bundeswehr und Militärressourcen im Inland im Rahmen von Amts- und Nothilfe bei Naturkatastrophen.
SPD-Fraktionsvorsitzender im Bundestag (1966/67–1969)
Bei den Wahlen von 1965 errang Helmut Schmidt erneut ein Bundestagsmandat. Als ein Jahr später die unionsgeführte Regierung Ludwig Erhard stürzte, bildete die SPD zusammen mit den Unionsparteien CDU/CSU die erste Große Koalition mit Kurt Georg Kiesinger (CDU) als Kanzler und Willy Brandt (SPD) als Vize-Kanzler und Außenminister. Schmidt, der aufgrund der Erkrankung Fritz Erlers bereits seit Herbst 1966 kommissarisch den Vorsitz der SPD-Bundestagsfraktion führte und ihn nach Erlers Tod im Februar 1967 auch offiziell übernahm, und Rainer Barzel fielen dabei als Fraktionsvorsitzenden der beiden Haupt-Koalitionspartner Schlüsselrollen bei der Abstimmung der parteiinternen Arbeit zu. Auf dieser Basis entstand ein persönliches Freundschaftverhältnis mit dem politischen Gegner Barzel, das bis zu dessen Tod im Jahre 2006 anhielt. Schmidts erfolgreiche Tätigkeit als Hamburger Innensenator und Fraktionsvorsitzender machten ihn zu einem der ersten Anwärter seiner Partei auf höhere Regierungsaufgaben in der Bundespolitik.
Bundesminister (1969–1974)
Nach dem Wahlsieg der SPD in der Bundestagswahl 1969 und der Vereinbarung der Sozialliberalen Koalition mit der FDP berief Bundeskanzler Willy Brandt Helmut Schmidt am 22. Oktober 1969 als Bundesminister der Verteidigung in die neue Bundesregierung. In seiner Amtszeit wurde der Grundwehrdienst von 18 auf 15 Monate verkürzt und die Gründung der Bundeswehruniversitäten in Hamburg und München beschlossen. Brandt und Schmidt auf dem SPD-Parteitag 1973
Am 7. Juli 1972 übernahm er nach dem Rücktritt von Professor Karl Schiller das Amt des Finanz- und Wirtschaftsministers. Nach der Bundestagswahl 1972 wurde dieses „Superministerium“ wieder geteilt. Die FDP stellte ab dem 15. Dezember 1972 den Bundeswirtschaftsminister; Schmidt führte weiterhin das Bundesministerium der Finanzen.
Bundeskanzler (1974–1982)
Nach dem Rücktritt Willy Brandts als Regierungschef wählte der Bundestag Schmidt am 16. Mai 1974 mit 267 Ja-Stimmen zum 5. Kanzler der Bundesrepublik. Die größten Herausforderungen in seiner Amtszeit waren die Ölkrisen der 1970er Jahre, die die Bundesrepublik unter seiner Führung besser überstand als die meisten anderen Industriestaaten sowie der Terrorismus der Roten Armee-Fraktion im sogenannten „Deutschen Herbst“. Seine frühere Verhandlungsbereitschaft mit den Terroristen sah er später als Fehler an und verfolgte von da eine unnachgiebige harte Linie, die ihm Kritik der Angehörigen der Todesopfer einbrachte.
Gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing, mit dem ihn eine persönliche Freundschaft verbindet, verbesserte Schmidt die deutsch-französischen Beziehungen und verwirklichte entscheidende Schritte hin zur weiteren europäischen Integration. So wurde kurz nach Schmidts Amtsübernahme der Europäische Rat etabliert, und auch die wirtschaftspolitisch bedeutendste Maßnahme seiner Regierungszeit erfolgte in Zusammenarbeit mit Giscard: die Einführung des Europäischen Währungssystems und der Europäischen Währungseinheit (ECU) zum 1. Januar 1979, aus der später der Euro hervorgehen sollte. Auf eine Idee Schmidts und Giscards ging auch die Gründung der Gruppe der 7 (G7) zurück.
Im Jahr 1977 wies Schmidt als erster westlicher Staatsmann auf die Gefahren für das Rüstungsgleichgewicht durch die neuen SS-20 Mittelstreckenraketen der Sowjetunion hin: Er befürchtete, die Fähigkeit der Sowjetunion, Westeuropa atomar angreifen zu können ohne dabei dessen Schutzmacht USA in Mitleidenschaft zu ziehen, könnte auf Dauer zu einer Entkoppelung der amerikanischen von den europäischen Sicherheitsinteressen führen. Er drängte daher auf den sogenannten NATO-Doppelbeschluss, der die Aufstellung von Mittelstreckenraketen in Westeuropa vorsah, dies aber mit einem Verhandlungsangebot an die Sowjetunion verband, beiderseits auf diese Waffensysteme zu verzichten. Dieser Beschluss war in der Bevölkerung und vor allem in der eigenen Partei sehr umstritten. Aus der Protestbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss, die sich mit der wachsenden Zahl von Umweltschützern verband, ging am Ende von Schmidts Regierungszeit die neue Partei der Grünen hervor. Schmidts Einschätzung über die langfristigen Entwicklungsmöglichkeiten der Sicherheitspolitik aufgrund des NATO-Doppelbeschlusses erwies sich rückschauend betrachtet als zutreffend. Am 8. Dezember 1987 wurde der INF-Vertrag zum Abbau aller Mittelstreckenraketen aus Europa zwischen der UdSSR und den USA in Reykjavík unterzeichnet.
Im Spätsommer 1982 scheiterte — vor allem an Differenzen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik — die von ihm geführte sozialliberale Koalition. Am 17. September 1982 traten sämtliche FDP-Bundesminister zurück. Schmidt übernahm daher zusätzlich zum Amt des Bundeskanzlers noch das Amt des Bundesministers des Auswärtigen (wie als einziger Bundeskanzler sonst nur Konrad Adenauer) und führte die Regierungsgeschäfte ohne Mehrheit im Bundestag weiter. Am 1. Oktober 1982 wurde durch ein konstruktives Misstrauensvotum mit den Stimmen von CDU, CSU und der Mehrheit der FDP-Fraktion Helmut Kohl zu seinem Nachfolger im Amt des Bundeskanzlers gewählt. Besonderheiten des Berufspolitikers
Helmut Schmidt wurde während seiner politisch aktiven Zeit wegen seines Redetalents gerade auch von Gegnern „Schmidt Schnauze“ genannt. Sein ökonomischer Sachverstand fand breite Anerkennung. Eine große Freundschaft verbindet ihn mit dem damaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing sowie mit dem ehemaligen Außenminister der USA, Henry Kissinger. Zusammen mit Valéry Giscard d’Estaing rief Helmut Schmidt 1975 den Weltwirtschaftsgipfel ins Leben, der als eigentlich informelle Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs der bedeutendsten westlichen Demokratien geplant war. Teilnehmer des ersten Treffens auf Schloss Rambouillet waren die Regierungschefs aus Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, dem Vereinigten Königreich und den USA. Schmidt setzte sich für den Einsatz der Kernenergie in Deutschland ein und steht auch heute noch dazu.
Helmut Schmidt ist bekennender Raucher. Seine Kolumne bei der Wochenzeitung Die Zeit hieß Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt. Im öffentlichen Raum – etwa in der Hamburger Bürgerschaft – verbietet man ihm das Rauchen nach wie vor nicht. Selbst während Fernsehreportagen oder in Fernsehstudios raucht Helmut Schmidt. Einzig im Plenarsaal des Bundestages, in dem bereits früh ein Rauchverbot herrschte, stieg er während der Sitzungen auf Schnupftabak um. Die aktuelle Verschärfung heiß debattierter Rauchverbote in den Bundesländern hält er für eine vorübergehende gesellschaftliche Erscheinung.
In Tübingen, wo er auf Einladung des Präsidenten der Stiftung Weltethos Hans Küng die 7. Weltethosrede hielt, führte Schmidt im Mai 2007 aus, in unserer rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung komme der Vernunft der Politiker, nicht aber deren spezifischem religiösen Bekenntnis, eine verfassungspolitisch entscheidende Rolle zu. Vom Wirken der Kirchen sei er moralisch, politisch und ökonomisch enttäuscht, und nichts sei für ihn unwichtiger als die Theologie. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten die Kirchen weder eine Neubegründung der Moral noch der Demokratie und des Rechtsstaates geleistet. Trotz seiner gewachsenen Distanz bekenne er sich zum Verbleib in der Kirche, denn sie setze Gegengewichte gegen den moralischen Verfall.[16]
Politische Positionen Verhältnis zur SPD
Während der gesamten Zeit der sozialliberalen Koalition bestand zwischen dem Kanzler und seiner Partei — insbesondere zu deren linken Flügel — in unterschiedlichen Punkten grundsätzlicher Dissens und Spannung; so in der Arbeits- und Wirtschaftspolitik sowie der Sicherheits- und Außenpolitik. Augenfällig und greifbar wurde dies auf dem Kölner Parteitag vom 18. und 19. November 1983: Von rund 400 Delegierten stimmten 14 für den Nato-Doppelbeschluss; darunter Schmidt selbst und sein früherer Verteidigungsminister Hans Apel.
Innenpolitik
Schmidt bezeichnet die Massenarbeitslosigkeit als das derzeit größte deutsche Problem.[17] Er lobt die „Agenda 2010“ Gerhard Schröders und sieht in ihr einen ersten Schritt zur Bewältigung der Folgen des demographischen Wandels.[18] Er hält das Reformprogramm jedoch für bei weitem nicht ausreichend und spricht sich schon seit den 1990er-Jahren[19] für eine umfassende Deregulierung des deutschen Arbeitsmarktes aus, darunter für eine Einschränkung des Kündigungsschutzes. Die Zumutbarkeitskriterien für Arbeitslose sollten weiter verschärft werden und das Arbeitslosengeld II für mehrere Jahre nominal eingefroren werden (beziehungsweise real sinken). Den Flächentarifvertrag sieht Schmidt als überholt an und fordert dessen weitgehende Abschaffung; der Einfluss der nach seiner Ansicht allzu mächtigen Gewerkschaften sollte zurückgeführt werden. Nur nach Umsetzung dieser Reformen könnte laut Schmidt ein (jedoch relativ niedriger) Mindestlohn eingeführt werden.[20] Zur Finanzierung der Renten sei eine allgemeine Arbeitszeitverlängerung (Lebens- und Wochenarbeitszeit) unumgänglich.
Außerdem ist Schmidt entschiedener Befürworter der Kernenergie und Gegner des Atomausstiegs, der unter der rot-grün geführten Bundesregierung beschlossen wurde. Er hält die Ablehnung der Kernenergie in der Bevölkerung für ein Produkt der aus Zweitem Weltkrieg und Holocaust hervorgegangenen deutschen Angst vor Veränderungen.[21] Ein weiterer Konfliktpunkt mit der SPD ist seine Befürwortung von allgemeinen Studiengebühren bei einer angemessenen Ausstattung des BAföG- und Stipendiensystems.
Helmut Schmidt war bereits in den 1960er-Jahren Anhänger der Einführung des Mehrheitswahlrechts in Deutschland, als diese Reform Teil der innenpolitischen Agenda der damaligen Großen Koalition war. Heute sieht er es dem Verhältniswahlrecht gegenüber immer noch als überlegen an, hält aber den Erfolg eines neuen Anlaufs für eine Wahlrechtsreform für ausgeschlossen. Eine häufig geforderte Ausweitung von Volksabstimmungen lehnt Schmidt ab, da sie zu sehr von der Stimmung des Volkes abhängig seien. Weiterhin kritisiert er die Art der Parteienfinanzierung in Deutschland. Langfristig wünscht er sich die vollkommene Abschaffung der staatlichen Finanzierung und der Wirtschaftsspenden. Private Mitgliederbeiträge sollten nicht mehr von der Steuer abgezogen werden.
Dem deutschen Föderalismus, den er als „Kleinstaaterei“ bezeichnet, bescheinigt Schmidt zahlreiche historisch gewachsene Schwächen, wenngleich er sich zum Subsidiaritätsprinzip bekennt. Den „permanenten Wahlkampf im Vierteljahrestakt“ betrachtet Schmidt aufgrund des „Egoismus der Parteien“ und der Einmischung der Landes- in die Bundespolitik als lähmend, da er die gesamtstaatliche Gesetzgebung populistisch („zwecks Popularitätssteigerung“) beeinflusse oder verzögere. Daher plädiert er für eine Zusammenlegung aller in Bund und Ländern anstehenden Wahlen auf einen einzigen Termin alle zwei Jahre, nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten. Die deutsche Hauptstadt Berlin soll nach dem Willen Schmidts finanziell gestärkt werden, wobei er eine dem Bund unterstellte und von ihm unterhaltene Hauptstadt (Bundesdistrikt) wie Washington D. C. als das tragfähigste Modell ansieht.
Helmut Schmidt beklagt zeit seines Lebens eine übermäßige deutsche „Regulierungswut“ und stellt bei der staatlichen Exekutive eine ausgeprägte „Paragraphengläubigkeit“ fest. Die politische Klasse in Deutschland sei von einer „psychischen Epidemie“ ergriffen, wovon unter anderem das 2003 eingeführte Dosenpfand und das bis 2008 durchgesetzte Rauchverbot zeugten. Daher sollten viele Gesetze abgeschafft und vereinfacht werden. Das Grundgesetz solle behutsamer und nicht so häufig geändert werden und das Bundesverfassungsgericht sich mit seinen „einengenden“ Urteilen zurückhalten. Schmidt warnt vor einer Machtverschiebung zwischen Parlament und Bürokratie. Das beste Beispiel einer Behörde, die ohne Verstand und parlamentarische Kontrolle agiert, ist für ihn die KMK, die Kultusministerkonferenz, die das deutsche Rechtschreibchaos angerichtet habe. Gesellschaftspolitik
Die multikulturelle Gesellschaft bezeichnet Helmut Schmidt als „eine Illusion von Intellektuellen“.[22] Mit einer demokratischen Gesellschaft sei das Konzept von Multikulti schwer vereinbar, so Schmidt. Es sei deshalb ein Fehler gewesen, dass die Bundesrepublik zu Beginn der 1960er-Jahre Gastarbeiter aus fremden Kulturen einwandern ließ.[23]
In der Frage der Volljährigkeit war Helmut Schmidt immer gegen die Herabsetzung vom 21. auf das 18. Lebensjahr im Jahre 1975. Damit befindet er sich im Gegensatz zur Parteimeinung der SPD.[24] Außenpolitik [Bearbeiten] Schmidt mit dem späteren Präsidenten der Vereinigten Staaten, Ronald Reagan 1978
In der Außenpolitik legt Schmidt sehr großen Wert auf das Prinzip der Nichteinmischung in die Angelegenheiten souveräner Staaten. Kritisch bezieht Schmidt Stellung zu so genannten humanitären Interventionen wie auf dem Balkan: „Leider erleben wir, was das Völkerrecht angeht, im Augenblick nur Rückschritte, nicht nur bei den Amerikanern, sondern auch auf deutscher Seite. Was wir im Kosovo und in Bosnien-Hercegovina gemacht haben, verstieß eindeutig gegen das damals geltende Völkerrecht.“[25]
Schmidt ist ein Gegner des geplanten Beitritts der Türkei zur Europäischen Union. Er befürchtet, dass der Beitritt die außenpolitische Handlungsfreiheit der EU gefährden würde, sowie ferner, dass der Beitritt und die damit verbundene Freizügigkeit die seiner Ansicht nach dringend gebotene Integration der in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürger aussichtslos werden ließe.[26]
Den G8-Gipfel in seiner heutigen Ausführung bezeichnet er als „Medienspektakel“ und fordert die Erweiterung um China, Indien, die großen Erdöl-Exporteure und die Entwicklungsländer.[27]
Für Schmidt ist die Debatte um die globale Erwärmung „hysterisch überhitzt“. Einen klimatischen Wechsel gebe es schon immer, die Ursachen hält Schmidt für „einstweilen nicht ausreichend erforscht“.[28]
Als größte internationale Herausforderung der Zukunft bezeichnet er die globale Bevölkerungsexplosion und die damit verbundene Bewältigung von Ernährungs-, Energie- und Umweltschutzfragen.
Freundschaften
Schmidt zählt den ermordeten ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat und den ehemaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing zu seinen herausragendsten politischen Freunden. Auch der frühere US-Außenminister Henry Kissinger zählt zu seinen engeren politischen Freunden. Kissinger sagte, er hoffe vor Schmidt zu sterben, er wolle in keiner Welt leben, in der es keinen Helmut Schmidt gebe.[29]
Rat holte Schmidt sich u. a. bei dem Philosophen Karl Popper, mit dem er in engem brieflichen Kontakt stand. Kunst, Musik, Philosophie und andere Interessen
Als Bundeskanzler sorgte Schmidt dafür, dass vor dem Bundeskanzleramt in Bonn die Skulptur „Large Two Forms“ von Henry Moore aufgestellt wurde, die das Zusammengehören der Bundesrepublik und der DDR symbolisieren sollte. Schmidts Leidenschaft für Kunst führte so weit, dass er das Bundeskanzleramt mit zahlreichen Kunstleihgaben ausstatten ließ. Außerdem ließ er das Schild „Bundeskanzler“ vor seinem Büro entfernen und stattdessen ein Schild mit der Aufschrift „Nolde-Zimmer“ anbringen, welches auf die Kunst in seinem Büro hinweisen sollte. Für die Galerie ehemaliger Bundeskanzler im Kanzleramt entschied Schmidt sich 1986 für den Leipziger Maler Bernhard Heisig als Porträtisten. Diese Wahl wurde zu dieser Zeit als Überraschung empfunden, obwohl sie nur Schmidts eigenständigen und unabhängigen Kunstgeschmack kennzeichnete.
Beide Häuser Schmidts in Hamburg beherbergen zahlreiche Bilder und Grafiken unterschiedlicher Künstler, auch eigene, denn der Hausherr malt bis ins hohe Alter selbst.
Aber auch zur Musik hat Schmidt ein besonderes Verhältnis. Er war es beispielsweise, der als Bundesverteidigungsminister die Big Band der Bundeswehr ins Leben rief. Er selbst spielt Orgel und Klavier und schätzt insbesondere die Musik von Johann Sebastian Bach. Seit einigen Jahren leidet er darunter, wegen seines nachlassenden Gehörs Musik nicht mehr genießen zu können; auf dem rechten Ohr ist Schmidt nahezu taub, im linken trägt er eine Hörhilfe, die ihm das Hören von Sprache einigermaßen ermöglicht.
Helmut Schmidt hat mehrere Schallplatten aufgenommen, in denen er als Interpret der Werke klassischer Komponisten zu hören ist, so zum Beispiel von Wolfgang Amadeus Mozart, Konzert für drei Klaviere und Orchester KV 242, oder von Johann Sebastian Bach, Konzert für vier Klaviere und Streicher A-Moll BWV 1065, jeweils gemeinsam mit den Pianisten Christoph Eschenbach, Justus Frantz sowie Gerhard Oppitz.
Zu Schmidts „Hausphilosophen“ gehören neben Marc Aurel und Immanuel Kant auch Max Weber und Karl Popper. Schmidts eigene Bemühungen als Politiker um pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken und seine Beschäftigung mit der Philosophie werden von Fachleuten respektvoll gewürdigt. So schrieb Volker Gerhardt, Schmidt sei Philosoph im Sinne eines Moralisten, der sich darauf verpflichtet, ein moralischer Politiker zu sein. Er stehe in einer Linie mit Otto von Bismarck, Walther Rathenau und Winston Churchill. „Alle drei waren Genies des politischen Handelns; alle waren mit einer großen intellektuellen Begabung ausgezeichnet, haben politisch Großes geleistet und überdies ein bedeutendes literarisches Werk hinterlassen. Ihnen ist Helmut Schmidt ebenbürtig, auch wenn er als Autor mehr veröffentlicht hat als alle drei zusammen.“ Und weiter: „Sein Werk steht im Zeichen der ethischen Frage. Es nimmt die weltpolitischen Lehren ernst, die aus der Wirtschaftskrise des Jahres 1928, aus den weltpolitischen Folgen der Not, aus den Weltkriegen und aus der mit der Entwicklung der Technik erstmals für alle sichtbar gewordenen Gefahr der weltweiten Selbstvernichtung der Menschheit gezogen werden müssen. Indem sich Helmut Schmidt im Laufe seines Lebens dieser Probleme mit wachsender Intensität annimmt, erkennt man, dass seine immer deutlicher zutage tretende Hinwendung zur Philosophie selbst wieder politischen Einsichten gehorcht. Darin ist er immer Politiker geblieben, aber die Philosophen täten gut daran, ihn so ernst zu nehmen, als sei er einer von ihnen.“[30]
Ehrungen
1966 bekam Schmidt den Goldenen Nürnberger Trichter einer Karnevalsgesellschaft. 1972 erhielt er für seinen Haarnetz-Erlass den Orden wider den tierischen Ernst des Aachener Karnevalsvereins. 1978 wurde er für sein Krisenmanagement in der Zeit des RAF-Terrors mit dem Theodor-Heuss-Preis und ebenfalls 1978 mit dem Friedenspreis der Louise-Weiß-Stiftung in Straßburg ausgezeichnet. Im Laufe seiner Regierungszeit und auch noch danach wurde Helmut Schmidt mit 30 Ehrendoktortiteln geehrt, darunter unter anderen auch Ehrendoktorwürden der britischen Universitäten Oxford und Cambridge, der Pariser Sorbonne, der amerikanischen Harvard- und der Johns Hopkins University, USA sowie auch der Keio-Universität in Japan. 1979 bekam er den Europa-Preis für Staatskunst. 1980 erhielt Schmidt die Goldman-Medaille für seinen Einsatz um Frieden und Menschenrechte. Den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland hat er, hanseatischer Tradition entsprechend, mehrfach abgelehnt (→Hanseaten und Auszeichnungen).
Seit 1983 ist Helmut Schmidt Ehrenbürger seiner Heimatstadt Hamburg sowie von Bonn und Bremerhaven, seit 1989 von Berlin, seit 1995 der Barlachstadt Güstrow und seit 1998 des Landes Schleswig-Holstein.
1983 wurde Schmidt in Löwen Ehrendoktor der Katholieke Universiteit Leuven. Aus diesem Anlass wurde Schmidt auch Ehrenmitglied der K.V.H.C. Payottenland Leuven im KVHV, einer katholischen flämischen Studentenverbindung.
1986 wurde Helmut Schmidt mit dem Athena-Preis der Alexander-Onassis-Stiftung ausgezeichnet.
1988 erhielt Schmidt den Freedom Award der Franklin D. Roosevelt-Stiftung. Schmidt, 2001
Den Neapel-Preis des Journalismus bekam Schmidt 1990.
Sein Buch Menschen und Mächte wurde 1990 mit dem Friedrich-Schiedel-Literaturpreis gewürdigt.
Im Jahr 1996 wurde Schmidt mit dem spanischen Journalismuspreis Godo geehrt.
Der Helmut-Schmidt-Journalistenpreis ist ein seit 1996 jährlich vergebener Preis der ING-DiBa für besondere Leistungen auf dem Gebiet des kritischen Verbraucherjournalismus durch verbraucherorientierte Berichterstattung über Wirtschafts- und Finanzthemen. Helmut Schmidt ist Schirmherr.
Mit dem Carlo-Schmid-Preis wurde Helmut Schmidt 1998 geehrt.
Im November 2001 wurde Bundeskanzler Helmut Schmidt gemeinsam mit seinem Freund und früheren französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing für sein Engagement im Dienste der Europäischen Währungsunion mit der Goldmedaille der Stiftung Jean Monnet ausgezeichnet.
2002 war er der erste Preisträger der Martin-Buber-Plakette.
Ebenfalls 2002 erhielt Helmut Schmidt den Dolf-Sternberger-Preis.
2003 wurde zu Ehren von Helmut Schmidt ein Lehrstuhl für internationale Geschichte an der privaten International University Bremen nach ihm benannt.
Im Dezember 2003 wurde die Universität der Bundeswehr in Hamburg in Helmut-Schmidt-Universität umbenannt, und Helmut Schmidt wurde darüber hinaus mit der Ehrendoktorwürde dieser Hochschule für seinen Einsatz für die wissenschaftliche Fortbildung von Offizieren Anfang der siebziger Jahre ausgezeichnet.
Am 1. Oktober 2005 erhielt Schmidt den „Prix des Générations“ der Initiative VIVA 50plus. Als herausragender Staatsmann habe „[…] Helmut Schmidt nicht nur das Zusammenleben der Generationen, sondern auch das Verständnis zwischen den Altersgruppen gefördert […]“. Helmut Schmidt bei einer Veranstaltung im Medienzentrum Passau, Oktober 2008
Ebenfalls im Oktober 2005 wurde Helmut Schmidt mit dem Oswald-von-Nell-Breuning-Preis der Stadt Trier ausgezeichnet. Gewürdigt wurde damit die „ […]Ernsthaftigkeit, mit der sich Helmut Schmidt immer wieder auch Fragen eines gerechten sozialen Ausgleichs gestellt […]“[31] habe.
Am 24. Januar 2006 wurde ihm im Auswärtigen Amt in Berlin zusammen mit dem ehemaligen französischen Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing der Adenauer-de Gaulle-Preis für sein Wirken um die deutsch-französische Zusammenarbeit verliehen.
Am 27. Februar 2007 wurde Schmidt von der Philipps-Universität Marburg mit der Begründung Das der Aufklärung verpflichtete Fach Philosophie erkennt in Helmut Schmidt den Philosophen im Politiker die Ehrendoktorwürde im Rahmen der Christian-Wolff-Vorlesungen verliehen.[32] Die Ehrung wurde von Lehrenden der Politikwissenschaft heftig kritisiert. Sie sahen darin ein symbolisches Ende der marxistischen Tradition Wolfgang Abendroths in Marburg und stellten zugleich die sachliche Verleihungswürdigkeit Schmidts in Frage.
Am 8. Juni 2007 wurde Helmut Schmidt als Erster überhaupt mit dem Henry-Kissinger-Preis der American Academy in Berlin ausgezeichnet. Damit ehrte ihn die American Academy als Publizist für seine herausragende Rolle in der transatlantischen Kommunikation.[33] Neun Tage später erhielt er den undotierten Weltwirtschaftlichen Preis für seine realitätsbezogene Politik mit moralischem Pflichtbewusstsein.[34]
Im Jahr 2008 wurde Schmidt mit dem Osgar, dem Medienpreis der Bild-Zeitung, ausgezeichnet.
Am 2. Februar 2009 wurde Helmut Schmidt im Gewandhaus mit dem Leipziger Mendelssohn-Preis in der Kategorie Gesellschaftliches Engagement ausgezeichnet.[35]
Im Jahr 2010 wurde Schmidt mit dem mit 25.000 Euro dotierten Point-Alpha-Preis ausgezeichnet, der für Verdienste um die Einheit Deutschlands und Europas in Frieden und Freiheit verliehen wird. Das Kuratorium Deutsche Einheit e.V. würdigte damit seine "Standhaftigkeit beim Nato-Doppelbeschluss und für seine Rolle beim KSZE-Prozess" [36]
Verschiedenes Der Hamburger Helmut Schmidt ist für viele […] der Hanseat par excellence.[37] Nach einer Umfrage von Emnid im Jahre 2005 gilt Helmut Schmidt als der beliebteste Politiker der jüngeren deutschen Geschichte.[38]
Seit dem Tod seines ehemaligen Innenministers Werner Maihofer ist Helmut Schmidt der älteste noch lebende Bundesminister a. D. und zudem der älteste der noch lebenden drei Bundeskanzler a. D.
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Thema: Biografie Fr Feb 26, 2010 8:21 pm
Helmut Schmidt Der SPD-Politiker und Autor stelle von 1974 bis 1982 den 5. Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Davor verdiente er sich von 1967 bis 1969 als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, 1969 bis 1972 als Bundesminister der Verteidigung, von 1972 bis 1974 als Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen und leitete kurzzeitig das Außenministerium (17. September 1982 bis 1. Oktober 1982). Während seiner Amtszeit als Kanzler setzte Helmuth Schmidt in der Außenpolitik die von seinem Vorgänger Willy Brandt begonnene Entspannungspolitik mit geringerer Entschlossenheit und größerer Bedachtsamkeit fort. Im Innern wurde seine Kanzlerschaft von der unversöhnlichen Konfrontation zwischen Staatsgewalt und linksrevolutionärem Terrorismus überschattet, die in den blutigen Ereignissen des "Deutschen Herbstes" von 1977 ihren Höhepunkt fand. Seit 1983 ist Schmidt Mitherausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit"...
Biografie Helmut Heinrich Waldemar Schmidt wurde am 23. Dezember 1918 in Hamburg-Barmbek als Sohn eines Studienrats und Diplomhandelslehrers geboren.
In jener Stadt wuchs er in bürgerlichen Verhältnissen auf. 1937 legte er an der Lichtwark-Schule in Hamburg-Bergedorf das Abitur ab. Von 1937 bis 1939 wurde Schmidt von der Wehrmacht zum Reichsarbeitsdienst und Wehrdienst eingezogen. 1939 wurde er Soldat und bei der Luftabwehr in Bremen stationiert. Von 1941 bis 1942 kämpfte Schmidt an der Ostfront.
Im Jahr 1942 heiratete er seine Schulfreundin Hannelore (Loki) Glaser in Hamburg. Im Anschluss daran war er bis 1944 als Referent für Ausbildungsvorschriften der leichten Flakartillerie im Reichsluftfahrtministerium in Berlin und in Bernau tätig. Als Batteriechef und Oberleutnant kämpfte Schmidt vom Dezember 1944 bis Kriegsende 1945 an der Westfront. Nach der Kapitulation Deutschlands, geriet Helmut Schmidt im April 1945 in der Lüneburger Heide in Kriegsgefangenschaft, aus der er am 31. August 1945 wieder entlassen wurde.
Noch 1945 nahm Schmidt ein Studium der Volkswirtschaft und der Staatswissenschaften in Hamburg auf. 1949 erlangte er mit einer vergleichenden Arbeit über die deutsche und die japanische Währungsreform seinen Abschluss als Diplom-Volkswirt. Das politische Engagement Schmidts begann unmittelbar nach Kriegsende mit seinem Eintritt in die SPD (1946). Von 1947 bis 1948 war er Bundesvorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS).
Nach seinem Studium war er in den Jahren 1949 bis 1953 als Referent, dann als Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung in der Behörde für Wirtschaft und Verkehr in Hamburg tätig. Darüber hinaus arbeitete Schmidt dort ab 1952 als Verkehrsdezernent. Für die SPD saß er von 1953 bis 1962 im Deutschen Bundestag in Bonn, wo er sich als Vertreter der jüngeren Parteigeneration und als ausgezeichneter Rhetoriker hervortat. 1957 trat Schmidt in den Fraktionsvorstand der SPD ein und arbeitete als Verkehrs- und Militärexperte der Regierung.
Ab 1958 war er Mitglied im SPD-Bundesvorstand. Als Militärexperte trat er ab 1958 energisch gegen eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr ein. Im Oktober 1958 erhob man Schmidt, während einer Wehrübung der Flugabwehrschule Rendsburg, zum Hauptmann der Reserve. Zur selben Zeit wählte man ihn wieder als SPD-Fraktionsvorstand ab. Aufgrund seiner scharfen Oppositionshaltung zur Bundesregierung und der kritischen Auseinandersetzung, vor allem mit deren Verteidigungsminister Franz Josef Strauß im Bundestag, erhielt Schmidt in jenen Jahren von seinen Gegnern den Beinamen "Schmidt-Schnauze".
Dieses war allerdings auch als Kompliment zu verstehen, würdigte der Spitzname doch seine sachlich-präzise und treffende Rhetorik. Schmidt veröffentlichte 1961 seine politische Schrift "Verteidigung oder Vergeltung". Im selben Jahr wurde er Innensenator in Hamburg, was ihn kurz darauf zur Niederlegung seines Bundestagsmandats veranlasste.
Bei der Hamburger Hochwasserkatastrophe vom 17. Februar 1962, bei der 337 Menschen ihr Leben verloren, war Schmidt als Innensenator der Stadt Leiter der Hilfsmaßnamen und Rettungsarbeiten. Durch sein besonnenes und wirkungsvolles Handeln verschaffte er sich als Krisenmanager in Deutschland höchste Akzeptanz und großes Ansehen. Im Vorfeld der Bundestagswahlen von 1965 trat Schmidt in die SPD-Regierungsmannschaft ein.
Nachdem er erneut in den Bundestag gewählt worden war, gab er sein Amt als Innensenator auf. Im Parlament nahm er zunächst die Funktion des stellvertretenden Vorsitzenden, dann 1967 bis 1969 des Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion wahr. Von 1968 bis 1983 war Schmidt außerdem mit dem stellvertretenden Vorsitz der SPD betraut. Während der Großen Koalition mit der CDU/CSU reiste der Fraktionsvorsitzende der SPD 1969 nach Washington und nach Moskau.
Im Jahr 1969 wurde Willy Brandt, nach 20-jähriger Regierungszeit der CDU/CSU, bei den Bundestagswahlen im September zum ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik gewählt. Ohne einen Koalitionspartner hätte er keine Regierungsmehrheit erreichen können. Die Unterstützung kam von der FDP. Bereits am nächsten Tag stelle Brandt sein Kabinett beim Bundespräsidenten Gustav Heinemann vor: Außenminister und Vize-Kanzler wurde Walter Scheel, Innenminister Hans Dietrich Genscher und Verteidigungsminister Helmut Schmidt.
Als Verteidigungsminister wirkte Schmidt 1969 an der Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags durch die Bundesrepublik mit. Im selben Jahr veröffentlichte er seine Abhandlung über die "Strategie des Gleichgewichts". 1973 folgte die Schrift "Auf dem Fundamt des Godesberger Programms". Schmidts außenpolitische Konzeption fußte nun auf der Überzeugung, dass die Entspannungspolitik nur unter Wahrung des militärischen Gleichgewichts zwischen West- und Osteuropa realisiert werden könnte. Im Innern nahm er einschneidende Veränderungen der Bundeswehr vor, die eine personelle Umbesetzung der Führungsspitze und eine Reform der Wehrausbildung umfassten.
Anfang des Jahres 1972 erkrankte Schmidt an der Schilddrüse, woraufhin er sich einige Wochen zurückzog. Nach seiner Genesung übernahm er vom zurückgetretenen Karl Schiller von Juli bis November das Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen. Als Verteidigungsminister wurde er von Georg Leber abgelöst. Nach dem erneuten Wahlsieg der SPD/FDP-Koalition erfolgte im Dezember 1972 die Vereidigung Schmidts als Bundesfinanzminister im zweiten Kabinett Willy Brandts.
Bei einem USA-Besuch scheute sich Schmidt 1973 nicht, deutliche Kritik an der Vietnam-Politik von Präsident Richard Nixon zu äußern. Als Finanzminister rückte er im Innern das volkswirtschaftliche Ziel der Vollbeschäftigung in den Vordergrund. Am 6. Mai 1974 gab Bundeskanzler Willy Brandt sein Rücktrittsgesuch bekannt. Er übernahm damit die politische Verantwortung für den größten Spionagefall in der Geschichte der BRD. Sein persönlicher Referent Günter Guillaume, sowie dessen Ehefrau, hatten über Jahre als Spione der DDR gearbeitet und dabei alle entscheidenden Informationen der Regierungsarbeit des Kanzlers verraten.
Brandts Nachfolger im Kanzleramt wurde nun Helmut Schmidt. In seiner Regierungserklärung stellte der neue Kanzler die Themen Stabilität und Vollbeschäftigung angesichts der weltweiten Rezession und Wirtschaftskrise als vorrangige Aufgaben heraus. Schmidt setzte die Entspannungspolitik seines Vorgängers zunächst behutsam fort. Im Oktober 1974 reiste er nach Moskau zu Gesprächen mit dem Russischen Staatschef Leonid Breschnew, und im Dezember besuchte er US-Präsident Gerald Rudolph Ford in Washington.
Am 1. August 1975 unterzeichnete der deutsche Kanzler in Helsinki die Verträge zur "Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE). Hier erfolgte auch die erste Begegnung mit DDR-Staatschef Erich Honecker. Aufgrund seines Sachverstandes und seiner bedachten Außenpolitik erwarb sich Schmidt großes Ansehen im europäischen Ausland. Die britische Ausgabe der "Financial Times" erklärte ihn zum "Menschen des Jahres 1975".
Bei den Bundestagswahlen von 1976 erreichte die SPD einen erneuten, wenn auch knappen Wahlsieg, und Schmidt wurde für eine weitere Amtszeit als Kanzler vereidigt. Im selben Jahr veröffentlichte er die Schriften "Kontinuität und Konzentration" und "Als Christ in der politischen Entscheidung". Die zweite Kanzlerschaft Schmidts war anfangs gekennzeichnet von Differenzen mit der neuen US-Administration unter Jimmy Carter, die jedoch beim USA-Besuch des deutschen Kanzlers im Juli 1977 bereits ausgeräumt waren. In der Nahost-Frage unterstützte Schmidt das palästinensische Mitspracherecht und die Friedensinitiative Sadats.
Im Jahr 1978 vereinbarte er bei einem Staatsbesuch des Kreml-Chefs Leonid Breschnew in der Bundesrepublik ein Rahmenabkommen mit der Sowjetunion über wirtschaftliche Zusammenarbeit. Indes eskalierte im Innern die politische Situation, die seit Beginn der 1970er Jahre durch gewalttätige Aktionen der sogenannten "Baader-Meinhof-Bande" um Andreas Baader und Ulrike Meinhof erschüttert worden war.
Die zweite Generation der sich nun als "Rote Armee Fraktion" (RAF) titulierenden Gruppe intensivierte in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts ihren bewaffneten Kampf und löste auf der Gegenseite die polizeiliche Hochrüstung des Staats aus, der auf die Bedrohung mit dem Ausbau des geheimdienstlichen Überwachungsapparats und dem Abbau von Grundrechten reagierte. Am 5. September 1977 erfolgte die Entführung von Hanns-Martin Schleyer, des Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände.
Für dessen Freilassung forderte die RAF von der Bundesrepublik die Haftentlassung von Andreas Baader und 11 weiteren Gefangenen. Jeder von ihnen, so die Forderung, sollte 100.000 DM erhalten und aus Deutschland ausgeflogen werden. Bundeskanzler Schmidt weigerte sich aus Gründen der Staatsräson ("Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht erpressbar") der Forderung nachzugeben.
Vier arabische Terroristen entführen daraufhin am 13. Oktober 1977 die Lufthansa-Maschine "Landshut", die ihrem Flug von Mallorca nach Frankfurt mit 82 Passagieren und fünf Besatzungsmitgliedern. Über Rom (Italien), Larnaka (Zypern), Bahrein (VAE), Dubai (VAE), Aden (Südjemen) erreichte die Maschiene Mogadischu (Somalia). Die Flugzeugentführer erklärten sich solidarisch mit der deutschen RAF und forderten ebenfalls die Freilassung der in Deutschland inhaftierten RAF-Aktivisten.
Am 18. Oktober 1977 gelang es einer Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes (GSG 9), in einem spektakulären Einsatz die Geiseln auf dem Rollfeld des Flughafens Mogadischu zu befreien. Offenbar unter dem Eindruck dieser Nachricht begingen nur wenige Stunden später die RAF-Aktivisten Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Hochsicherheitstrakt der Strafvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim Selbstmord. Alle Bemühungen der Polizei, Hanns Martin Schleyer zu finden und zu befeien, blieben erfolglos.
Einem wichtigen Hinweis, der zur Aufdeckung des Verstecks der Entführer geführt hätte, gingen die Ermittlungsbehörden nicht nach. Am 19. Oktober 1977 wurde Hanns-Martin Schleyer tot im Kofferraum eines Autos gefunden. Bundeskanzler Schmidt übernahm die Verantwortung für den Tod des Arbeitgeberpräsidenten und versicherte vor dem Bundestag: "Zu dieser Verantwortung stehen wir auch in der Zukunft. Gott helfe uns!".
Trotz mancher Kritik an seinem harten Krisenmanagement in jenem "Deutschen Herbst", wonach Schleyer zum Opfer der Staatsräson geworden war, erhielt Schmidt noch im selben Jahr den Theodor Heuss-Preis überreicht. Im innenpolitischen Bereich rief der Bundeskanzler auch mit seiner Option für einen begrenzten Ausbau der Kernenergie zunehmenden Widerstand sogar in der SPD hervor. Auch die Außenpolitik Schmidts blieb nicht ohne Kritik, da sie durch ihre Anlehnung an die NATO-Aufrüstung die Entspannungspolitik der Vorjahre konterkarierte.
Beim Gipfeltreffen von Guadeloupe im Januar 1979 begegnete Schmidt erneut dem US-Präsidenten Jimmy Carter und dem britischen Premierminister James Callaghan. Hierbei erreichte Schmidt die politisch entscheidende Zustimmung für Deutschland zum NATO-Doppelbeschluss, der die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen in Europa vorsah, falls die Abrüstungsgespräche mit der Sowjetunion scheitern sollten. 1980 forderte Schmidt, zusammen mit Giscard d’Estaing, in einem gemeinsam verfassten Communiqué die Sowjetunion auf, ihre Truppen aus Afghanistan abzuziehen.
Unter anderem für diesen Einsatz sowie für seine Verdienste um Frieden und Menschenrechte wurde Schmidt am 9. Juli 1980, beim Jüdischen Weltkongress in Amsterdam, mit der Goldmann-Medaille ausgezeichnet. Nach dem Wahlsieg der sozial-liberalen Koalition bei den Bundestagswahlen trat Schmidt am 5. November 1980 seine dritte Amtsperiode als Bundeskanzler an. Im Oktober 1981 erkrankte er dramatisch am Herz. In einer gefährlichen Operation erhielt er noch im selben Monat einen Herzschrittmacher. Nach seiner Genesung traf sich Schmidt erneut mit dem russischen Staatschef Leonid Breschnew zu Gesprächen über die Abrüstung von Mittelstreckenraketen in Europa.
Im Dezember folgte die Begegnung mit Erich Honecker am Werbellinsee zu diplomatischen Gesprächen. 1981 wurde Ronald Reagan zum 40. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Im Januar 1982 besuchte ihn Schmidt zu ersten Gesprächen beider Länder und zur Erörterung der Entwicklungen in Polen. Im Innern war das dritte Kabinett Schmidts gekennzeichnet von zunehmenden Differenzen zwischen den Koalitionspartnern über die Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Im Jahr 1981 gaben eine staatliche Rekordneuverschuldung, eine erhöhte Teuerungsrate und eine konstante Arbeitslosigkeit Anlass zu Kontroversen über die Spar- und Beschäftigungspolitik. Der Nato-Nachrüstungsbeschluss rief innerparteilichen Widerspruch und einen breiten Protest in der Bevölkerung hervor. Angesichts der massiven Kritik an seiner Wirtschafts-, Finanz- und Sicherheitspolitik stellte Schmidt als Bundeskanzler am 5. Januar 1982 im Bundestag in Bonn die Vertrauensfrage, die er mit dem einstimmigen Votum der Koalition bestand. Dennoch nahmen die koalitionsinternen Differenzen in den folgenden Monaten weiter zu.
Am 17. September 1982 traten die FDP-Minister Hans Dietrich Genscher, Chef der FDP, Otto Graf Lambsdorff und Gerhard Baum aus der Regierung aus. Schmidt reagierte mit der Bildung eines SPD-Minderheitskabinetts und schlug vorgezogene Neuwahlen vor. Am 1. Oktober 1982 wurde Schmidt mit einem konstruktiven Misstrauensvotum von CDU/CSU und FDP als Bundeskanzler abgewählt. Dies bedeutete auch das Ende der langjährigen sozialliberalen Regierungsära, denn zu seinem Nachfolger im Amt des Bundeskanzlers wurde Helmut Kohl (CDU) bestellt, der in den Bundestagswahlen vom März 1983 in dieser Position bestätigt wurde.
Schmidt verzichtete auf eine weitere Kanzlerkandidatur und wand sich am 1. Mai 1983 der Wirtschaft zu. Darüber hinaus betätigte er sich nun als Mitherausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit", deren Verleger er von 1985 bis 1989 war. Als Kandidat seines Hamburger Wahlkreises gehörte er noch bis 1987 dem Bundestag an. Am 22. Dezember 1983 wurde er mit der Ehrenbürgerwürde der Freien und Hansestadt Hamburg bedacht. Am 10. September 1986 erfolgte seine Abschiedsrede im Deutschen Bundestag.
Im Dezember 1986 traf sich Schmidt mit Giscar d'Estaing zur Gründung eines Ausschusses für die Europäische Währungsunion sowie für Vorbereitungen zur Errichtung einer Europäischen Zentralbank. 1987 publizierte Schmidt die Schrift "Menschen und Mächte", 1989 wurde er zum Ehrenbürger der Stadt Berlin ernannt. Des weiteren erhielt er 1998 zu seinem 80. Geburtstag die Ehrenbürgerwürde des Landes Schleswig-Holstein.
Helmut Schmidt blieb indes im In- und Ausland als anerkannter Staatsmann und Publizist. Als gefragter Gesprächspartner und weltpolitischer Beobachter, dessen politische Meinung und historische Erfahrung, nach wie vor, von höchstem Interesse für Politik, Medien und Gesellschaft sind blie er der Öffentlichkeit erhalten. Nach Helmut Schmidt wurde ein von der Allgemeinen Deutschen DirektBank AG gestifteter Journalistenpreis für kritische Wirtschaftsberichterstattung benannt, der im Oktober 2004 bereits zum neunten Mal vergeben werden konnte.
Am 24. Januar 2006 wurde ihm im Auswärtigen Amt in Berlin zusammen mit dem ehemaligen französischen Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing der Adenauer-de Gaulle-Preis für sein Wirken um die deutsch-französische Zusammenarbeit verliehen. Am 8. Juni 2007 wurde Helmut Schmidt als Erster überhaupt mit dem Henry-Kissinger-Preis der American Academy in Berlin ausgezeichnet. Damit ehrte ihn die American Academy als Publizist für seine herausragende Rolle in der transatlantischen Kommunikation.
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Thema: Die vielen Meilen des Helmut Schmidt Fr Feb 26, 2010 8:23 pm
TV-Kritik: ''Beckmann'' Die vielen Meilen des Helmut Schmidt
23.02.2010, 07:42
Eine kleine Nachtkritik von Hans-Jürgen Jakobs
Geschichtsstunde mit dem Altkanzler: Helmut Schmidt erklärt in der Talkshow Beckmann die Welt - und watscht Westerwelle ab.
Er hielt es wieder mit seinem Motto: "Auf eine Zigarette". Da saß er also im öffentlich-rechtlichen Fernsehstudio und paffte so viel, dass mitunter der auf Zigarettenschachteln übliche Nikotin-Warnhinweis angebracht gewesen wäre. Zwischendurch holte der Mann im Rollstuhl auch noch den Schnupftabak heraus.
Helmut Schmidt, 91, ist das Gegenmodell zum aktuellen Politiker-Typus, der es gesundheitsbewusst und glattgebügelt der Mehrheit recht machen will. Für den rauchenden Altkanzler ist beispielsweise einer wie Guido Westerwelle nur ein "Meister der Wichtigtuerei", der mit seinen nassforschen Hartz-IV-Einlassungen zur "spätrömischen Dekadenz" falsch liege: Es gebe niemanden, "der dem Volk Wohlstand versprochen hat, ohne dass man dafür arbeiten muss". Der FDP-Chef und Außenminister rede "gegen jemanden, den es gar nicht gibt".
Und, außerdem: Der Wohlfahrtsstaat sei "die größte kulturelle Leistung, die die Europäer im Laufe des 20. Jahrhunderts zustande gebracht haben".
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Üblicherweise hat es die ARD-Talkshowgröße Reinhold Beckmann mit der Leichtmatrosen-Abteilung des politischen Geschäfts zu tun, was bei ihm leicht zum Überschwang der Rede führt. Am Montag aber nötigte eine SPD-Legende Respekt ab. Mit seinem alten Freund Fritz Stern, 84, dem großen, einst aus Breslau geflohenen US-Historiker, räsonierte Schmidt über Geschichte und Gemeinwesen. Die beiden haben just ein Buch (Unser Jahrhundert) veröffentlicht, das nach Gartengesprächen im vorigen Sommer entstanden war.
Man merkt: Dieses Paar hat schon jahrzehntelang über seine Themen diskutiert. Man kennt die Pointe, den Spin des anderen, bleibt aber immer kultiviert höflich.
Unerhörtes zu sagen, ist dem Altkanzler ein Leichtes
Auf ihrer Zeitreise ist mal vom früheren US-Präsidenten Gerald ("Jerry") Ford die Rede oder von Franklin D. Roosevelt und seinem New Deal, dann wieder vom lebenslangen Lernen: Es müsse künftig auch "Berufsschulen für 47-Jährige oder 53-Jährige geben", sagt der Altkanzler und fordert: "Nicht so lange Rumstudieren!" Da klingt Schmidt fast wie "Schmidt Schnauze", wie der forsche Abgeordnete aus Hamburg einst im Bonner Bundestag hieß.
Betrübt ist der Zeit-Herausgeber über die Geschichtslosigkeit der heutigen Politiker-Generation. Defizite zeigten sich etwa in der Debatte um die Stiftung für Flucht und Vertreibung, bei der das Schicksal des polnischen Volkes nie richtig erfasst worden sei ("das sinkt ab"). Als sein Vorbild nennt er den römischen Kaiser Marcus Aurelius, der ihm damals in den düsteren Tagen des Zweiten Weltkriegs Kraft gegeben habe. Schmidt erwähnt auch beispielsweise Ernst Reuter oder Charles de Gaulle.
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Thema: beliebtester Bundeskanzler Fr Feb 26, 2010 8:25 pm
Helmut Schmidt - Stationen eines politischen Lebens
Auch ein Vierteljahrhundert nach Ende seiner Amtszeit gilt Helmut Schmidt vielen Deutschen immer noch als beliebtester Bundeskanzler. Ein multimedialer Rückblick auf neun bewegte Jahrzehnte.
Helmut Schmidt zum 90. Mit der Leidenschaft zur Vernunft
Früh bildete sich Helmut Schmidt zum politischen Allroundtalent. Als Kanzler gab er den Deutschen Orientierung in schwieriger Zeit Eigentlich hatte Helmut Schmidt geglaubt, in der Politik habe er das »Ende der Fahnenstange« erreicht. Ernsthaft ging er mit dem Gedanken um, sich in der Wirtschaft einen führenden Posten zu suchen. Dem Economist sagte er im März 1974: »Mein Sinnen ist nicht mehr auf Avancement gerichtet.« Acht Wochen danach schwor er als fünfter Bundeskanzler seinen Amtseid. Inzwischen war die Guillaume-Affäre losgebrochen, waren auch Willy Brandts Frauengeschichten ruchbar geworden. Wie kaum ein anderer hatte Schmidt versucht, Brandt auf dem Kanzlerposten zu halten. Einmal brüllte er ihn sogar an: »Wegen dieser Lappalien kann ein Bundeskanzler sein Amt nicht aufgeben!« Später bekundete er einmal: »Ich wollte dieses Amt nicht. Ich hatte Angst davor.« Aber Brandt war der Rücktritt nicht auszureden. So ließ sich Schmidt in die Pflicht nehmen. Niemand merkte ihm seine Ängste an, als er am 16. Mai 1974 die Eidesformel sprach.
Kein Bundeskanzler vor ihm hatte sein Amt mit einer so breit gefächerten Vorbildung angetreten. Wohl war Schmidt an der Wiege kein politisches Lied gesungen worden; Politik sei nichts für Kinder, fand der Vater. Die Gewaltherrschaft von »Adolf Nazi« – wie Schmidt heute noch gern sagt – war dem Jugendlichen zuwider, doch besaß er keine Idee davon, »wofür ich hätte eintreten sollen«. Im Herbst 1937 wurde er Soldat und blieb es bis zum Kriegsende. Erst in englischer Kriegsgefangenschaft entwickelten sich unter dem Einfluss älterer Kameraden seine »ersten positiven politischen Vorstellungen«; noch im Gefangenenlager wurde er Sozialdemokrat.
Während des Volkswirtschaftsstudiums zog es ihn dann immer tiefer in die Politik. So wurde er 1946 in der Hansestadt Mitgründer des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes; 1947/48 war er sogar SDS-Vorsitzender in der britischen Besatzungszone. Einer seiner Professoren, Karl Schiller, der 1948 Senator für Wirtschaft und Verkehr wurde, holte den jungen Diplomvolkswirt Schmidt im folgenden Jahr als persönlichen Referenten in seine Behörde; 1952 übernahm der 34-Jährige das Amt für Verkehr. Ende September 1952 in Dortmund lieferte er auch seinen ersten Diskussionsbeitrag auf einem SPD-Parteitag. Dabei ging es schon um weit mehr als bloß um Verkehrsthemen, nämlich um Grundsätze der Wirtschaftsordnung; wobei er früh vor einer Defizitwirtschaft warnte und die Genossen ermahnte, nicht mehr zu versprechen, als man durchführen könne. Im Jahr darauf rutschte er über den sechsten Platz auf der Hamburger Landesliste in den Bundestag.
Auch in Bonn galt zunächst den Verkehrsfragen sein Interesse. Bald jedoch mauserte er sich neben Fritz Erler zum Verteidigungsfachmann. Der wortgewandte Streiter wider die Atomrüstung, der er damals war, machte 1958 eine Reserveübung bei der Bundeswehr. Viele seiner Genossen verstörte dies zutiefst. Er erhielt auch umgehend die Quittung: Die SPD-Bundestagsfraktion wählte ihn noch während seiner Übung aus ihrem Vorstand ab, dem er erst knapp ein Jahr angehörte. Aber er ließ sich das Wehrthema nicht vergällen; 1961 erschien sein Werk Verteidigung oder Vergeltung, das ihn mit einem Schlag in die vorderste Reihe der ernst zu nehmenden strategischen Denker des Westens katapultierte.
Das ewige Opponieren war er freilich bald leid. So folgte er nach der Bundestagswahl 1961 einem Ruf seiner Vaterstadt. In seine Zeit als Hamburger Innensenator fiel im Februar 1962 das Ereignis, mit dem er sich ein für allemal in das Bewusstsein der Bundesbürger hob: die Hamburger Flutkatastrophe, die größte seit 1825, die 315 Menschen das Leben kostete und 75000 obdachlos machte. Der Innensenator Schmidt riss damals beherzt das Kommando an sich. Etwas außerhalb der Legalität befahl er 8000 Soldaten der Bundeswehr zum Einsatz und erwirkte bei der Nato die Entsendung einer Hubschrauberflotte zur Rettung der vom Wasser eingeschlossenen Menschen. Der »Macher« gab den Deutschen eine erste Probe seines Könnens, eine Demonstration seiner Tatkraft, Umsicht und Entschlossenheit. Im Herbst 1965 kehrte er wieder in den Bundestag zurück.
Als 1966 die Große Koalition gebildet wurde, bekam Schmidt zum ersten Mal ein Ministerium angeboten: das Verkehrsressort. Er lehnte ab und wählte die Arbeit in der Fraktion, deren Führung er für den schwerkranken Fritz Erler als amtierender Vorsitzender übernahm; nach dem Tod Erlers im Februar 1967 rückte er dann an dessen Stelle. Im Tandem mit Rainer Barzel, dem CDU-Fraktionsvorsitzenden, lernte er die Leitung des parlamentarischen Geschäfts: diskutieren, Meinungen zusammenführen, entscheiden, dann die Entscheidung auf den vorgeschriebenen Vollzugsweg bringen. Der Verkehrsexperte, Wehrexperte, Katastrophenspezialist bildete sich zum Allroundpolitiker, der auf vielen Feldern zu Hause war und sich mit der Sachkunde immer zugleich Urteilskriterien, Maßstäbe und Überzeugungen erwarb.
Dann kamen, nach dem »Machtwechsel« von 1969, die Bonner Ministerjahre – auch sie politische Lehr- und Wanderjahre. Fast drei Jahre lang wirkte Schmidt als Verteidigungsminister, danach beinahe zwei Jahre lang als Finanzminister, fünf Monate davon gleichzeitig als Wirtschaftsminister.
Auf der Hardthöhe musste er zunächst einmal die unter seinem Vorgänger ins Konservativ-Kommissige abgeglittene Generalität zurechtstutzen, die den Leitbildern der Inneren Führung und des »Staatsbürgers in Uniform« den Rücken kehren wollte. Zugleich hatte er sich mit aufmüpfigen Leutnants und Hauptleuten herumzuschlagen. Vor allem jedoch trieb er die von seinem Planungsstab organisierte »kritische Bestandsaufnahme der Bundeswehr« voran, eine groß angelegte Selbsterforschung des neuen Militärs, die im Weißbuch 1970 ihren Niederschlag fand. Kernaussagen: Der Frieden ist der Ernstfall; die Innere Führung ist keine »Maske«, die man ablegen kann, sondern der Wesenskern der Bundeswehr; die Schule der Armee ist die Nation, nicht umgekehrt. Wie alle Verteidigungsminister nach ihm musste sich Schmidt in puncto Bundeswehrfinanzierung gegen die Kürzungsversuche des Finanzministers – seinerzeit sein früherer Chef Karl Schiller – heftig zur Wehr setzen. Er tat dies auch, um sich den finanziellen Spielraum für die Bundeswehrhochschulen zu erhalten, die vielleicht das nachhaltigste Reformwerk des Verteidigungsministers Schmidt sind.
Gefordert sah er sich auch auf dem Felde der Nato-Verteidigungsstrategie. Als Erstes erwirkte er bei seinem amerikanischen Kollegen Melvin Laird, dass der Plan aufgegeben wurde, entlang der Zonengrenzen einen Gürtel von Atomminen zu verlegen, die bei einem sowjetischen Angriff gleichsam automatisch hochgehen sollten; eine große Anzahl lagerte bereits in grenznahen Bunkern. Ebenso drängte er auf ein Bonner Veto beim Einsatz taktischer Atomwaffen von deutschem Boden aus oder auf deutsche Ziele hin – am Ende schwieriger Verhandlungen mit Erfolg. Zugleich stand er als Verfechter einer Politik des Gleichgewichts Pate bei der Anbahnung von Ost-West-Gesprächen über einen beiderseitigen ausgewogenen Truppenabbau – den späteren MBFR - Verhandlungen (Mutual Balanced Force Reductions).
Mitte 1972 trat Karl Schiller nach längeren Querelen im Kabinett als Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen zurück. Helmut Schmidt musste in die Bresche springen. Nun ging es um den Dollar, dessen Abwertung und die Folgen; um Beschäftigung und die Bekämpfung der Inflation; um Steuern und Abschreibungen; schließlich um die Energiesicherheit nach der Ölpreisexplosion im Herbst 1973. In dieser Zeit knüpfte er auch jene freundschaftliche Beziehung zu seinem französischen Kollegen Valéry Giscard d’Estaing an, die über die Zwischenstation des Europäischen Währungssystems schließlich zur Europäischen Währungsunion führte.
Im Mai 1974 war Helmut Schmidts Vorbereitungszeit zu Ende. Er hatte als kleiner Verwaltungsbediensteter begonnen und danach große Behörden zusammengeschweißt; er hatte die SPD-Bundestagsfraktion aus der Warte des parlamentarischen Neulings kennengelernt und war ihr Vorsitzender gewesen; zuletzt hatte er zwei große Ressorts der Bundesregierung geleitet. Sicherheits- und Außenpolitik, Wirtschaftspolitik und Währungspolitik waren ihm gleichermaßen vertraut. Auf der Weltbühne bewegte er sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie auf der Bonner Bühne; er kannte die entscheidenden Akteure. Dazu kamen sein eiserner Wille, strenge Selbstdisziplin und ein tiefes Pflichtgefühl. Er war reif für die Kanzlerschaft.
Sein Ausgangspunkt war schwieriger als der seiner Vorgänger. Das Zeitalter der Architektonik war zu Ende. Die wesentlichen außenpolitischen Strukturen standen. Konrad Adenauer hatte das westliche Deutschland erst in den Rahmen des europäischen Einigungswerkes eingepasst, dann in das Atlantische Bündnis. Der deutsch-französischen Versöhnung fügte er den deutsch-israelischen Wiedergutmachungsvertrag an. Im Inneren stellte Ludwig Erhard die Anfänge des heutigen Sozialstaates auf das Fundament einer marktwirtschaftlichen Ordnung, deren Leistungsfähigkeit jahrzehntelang in der Welt Neid und Bewunderung erregte. Willy Brandt fügte dann in das Kontinuitätsgeflecht westdeutscher Außenpolitik die zweite Determinante ein: das Streben nach Kontakt mit der DDR und Osteuropa, nach Kooperation, wo immer die kommunistische Welt dazu bereit war.
Ursprünglich hatte Helmut Schmidt Architekt und Städteplaner werden wollen; die politische Baumeisterei hätte ihm gelegen. Aber die Zeit, in der er als Kanzler antrat, und die Welt, die er vorfand, forderten etwas ganz anderes: Krisenmanagement. Die Ölkrise vom Herbst 1973 hatte die Szenerie von Grund auf verändert. Eine Epoche war abrupt zu Ende gegangen, in der billige Energie stets im Überfluss vorhanden war. Die Vervierfachung des Erdölpreises binnen weniger Wochen warf schwierigste Probleme für die Volkswirtschaften der demokratischen Industriestaaten auf.
Zugleich begann deutlich zu werden, dass die Entspannungspolitik der zurückliegenden Jahre auf schütterem Boden ruhte. Gewiss, der europäische Modus Vivendi, wie er in den Verträgen der frühen Siebziger seinen Niederschlag gefunden hatte, stand nicht zur Disposition; in der finnischen Hauptstadt arbeiteten die Vertreter von 35 Nationen daran, ihn in der »Schlussakte von Helsinki«, die dann im Sommer 1975 feierlich unterzeichnet wurde, auf ein noch breiteres vertragliches Fundament zu stellen. Aber zugleich wurde an den fernen Horizonten der Dritten Welt neues Wetterleuchten sichtbar. An der Peripherie dauerte die Rivalität der Supermächte unvermindert fort. Bald schon wurde auch allen Einsichtigen klar, dass sich das Wettrüsten der Atomgiganten nach ihrem ersten Rüstungsbegrenzungsabkommen, dem Salt-I-Vertrag (Strategic Arms Limitation Talks) von 1972, lediglich von der quantitativen auf die qualitative Ebene verlagerte; der Frieden wurde nicht sicherer.
Unter diesen Umständen musste Helmut Schmidt allen Baumeister-Ehrgeiz beiseiteschieben und sich ganz aufs Bewahren, Zusammenhalten, Stützen und Stabilisieren verlegen. »Konzentration und Kontinuität« war seine erste Regierungserklärung überschrieben, »Das Erreichte sichern« die zweite (1976), »Mut zur Zukunft« die dritte (1980).
Vier Themen zogen sich bestimmend durch Schmidts ganze Kanzlerschaft: die Wirtschaftskrise; das Ost-West-Verhältnis; die Atomrüstung; der Kampf gegen den RAF-Terror. Als ökonomischer Vordenker seiner Partei hatte Schmidt postuliert, eine erfolgreiche Gesellschaftspolitik setze stetiges Wirtschaftswachstum voraus. Doch während seiner Kanzlerschaft blieb das Wachstum zeitweise aus; in manchen Jahren schrumpfte das Bruttosozialprodukt sogar. Die beiden Ölkrisen von 1973/74 und 1979/80 erschütterten nicht nur die westdeutsche Ökonomie, sondern das ganze Weltwirtschaftssystem. Überall schossen die Inflationsraten in die Höhe, wuchsen die Heere der Arbeitslosen, stagnierte die Produktion. Als Schmidt die Regierung übernahm, gab es in der Bundesrepublik 582481 Arbeitslose; bis zum neuerlichen Machtwechsel am 1.Oktober 1982 wuchs die Zahl auf 1,8 Millionen an. Die Inflationsrate, die 1974 den Gipfelpunkt von 7 Prozent erreicht hatte, lag am Ende seiner Regierungszeit bei 5,3 Prozent. Im internationalen Vergleich stand die Bundesrepublik dabei höchst eindrucksvoll da. Fast überall gab es mehr Beschäftigungslose und weit mehr Inflation. Schmidts umsichtige Stabilisierungspolitik, das vorsichtige Zurückschneiden unfinanzierbar gewordener Reformen zahlte sich aus.
Dennoch überkam den Bundeskanzler Schmidt zum Schluss seiner Amtszeit das Gefühl, er habe noch nicht genug an Stabilisierung geleistet, es müsse noch mehr gespart werden, vor allem sei bei der Verschuldung des Bundes das Maß des Erträglichen erreicht (Bundesschulden 1973: 57,1 Milliarden Mark, 1982: 305 Milliarden; Nettokreditaufnahme des Bundes 1973: 2,7 Milliarden, 1982: 37,2 Milliarden). Binnen dreizehn Jahren hatte sich der Anteil der Sozialausgaben von 16 auf 23 Prozent des Bruttosozialprodukts erhöht, die Abgabenquote (Steuern und Sozialbeiträge) von 34 auf 38 Prozent. Gleichzeitig war der Anteil der öffentlichen Investitionen am Gesamthaushalt von 24,5 auf 16,5 Prozent heruntergefahren worden. Eine gemischte Bilanz also. Verständlich, dass Schmidt selbst herbeiführen wollte, was heutzutage »Wende« heißt. Im Juni 1982 las er der SPD-Bundestagsfraktion die Leviten. Auf viel Verständnis traf er nicht. Hätte er auf seiner Sparpolitik beharrt, so wäre er wohl an der eigenen Partei gescheitert und nicht erst an dem Wankelmut des FDP-Koalitionspartners.
Außenpolitisch setzte er die Entspannungspolitik seines Vorgängers fort. Dies zeigte sich in seinem ständigen Bemühen um Honeckers DDR, Giereks Polen und Breschnews Sowjetunion. Allerdings wusste er, dass auf diesem Felde Neues kaum noch zu konstruieren war, sondern dass es nun darauf ankam, die »strikte Einhaltung und volle Anwendung« der Verträge durchzusetzen.
Im Übrigen vertrat Schmidt in Ost wie West mit eindringlicher Beredsamkeit das deutsche Grundinteresse, vermeidbare Konfrontationen zwischen den Blöcken auch tatsächlich zu vermeiden, da dem Ziel eines möglichst problemlosen Nebeneinanders der beiden deutschen Staaten, geschweige denn dem Fernziel ihrer Wiedervereinigung, mit Krisen nicht genützt wäre. Zugleich vertrat er dabei ein gesamteuropäisches Grundinteresse, Konfrontationen zu entschärfen, weil nur auf diese Weise eine gedeihliche Annäherung der Länder und Völker unseres geteilten Kontinents möglich erschien. Das jedoch hieß: Es musste verhindert werden, dass Spannungen von fernen Weltgegenden – zum Beispiel Afghanistan – auf Europa übergriffen. Den Europäern in beiden Lagern wies Schmidt die Aufgabe zu, stets von Neuem mäßigend auf ihre jeweilige Vormacht einzuwirken und bei aller Sorge für die eigene Sicherheit doch auch die Zukunftsperspektive der Zusammenarbeit offenzuhalten – zumal vor und nach Führungswechseln in Washington und Moskau.
In einer Frage allerdings trat Schmidt als Bundeskanzler aus der Deckung heraus: der Frage, wie der Westen auf die sowjetische Mittelstreckenraketen-Rüstung reagieren solle. Die Sowjets hatten mit der Aufstellung der neuen SS-20 begonnen. Der weitere Ausbau ihres Mittelstreckenarsenals beschwor die Entstehung eines eurostrategischen Ungleichgewichts herauf. Im Oktober 1977 hob Schmidt vor dem Londoner International Institute for Strategic Studies das Problem ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit.
Nach vielem Hin und Her trafen sich dann US-Präsident Carter, Frankreichs Staatspräsident Giscard d’Estaing, der britische Premierminister Callaghan und Bundeskanzler Schmidt zu einem Vierergipfel auf der französischen Karibikinsel Guadeloupe. Dort wurde vorformuliert, was in den folgenden elf Monaten zu jenem Doppelbeschluss reifte, den die Nato am 12. Dezember 1979 verabschiedete. In fünf Stationierungsländern sollten 572 neue US-Mittelstreckenwaffen –108 Pershing II und 464 Cruise-Missiles – aufgestellt werden (alle Pershings und 96 Marschflugkörper in der Bundesrepublik). Gleichzeitig jedoch sollten den Sowjets Rüstungskontrollverhandlungen vorgeschlagen werden. Verzichtete Moskau auf die SS-20, würde die westliche Allianz von der Aufstellung der Pershings und Cruise-Missiles Abstand nehmen.
Der Doppelbeschluss signalisierte den Sowjets, dass das Atlantische Bündnis noch handlungs- und beschlussfähig war. Andererseits hatte er einen polarisierenden Effekt in der Bundesrepublik, am stärksten innerhalb der SPD und bei den Grünen. Die Zahl der Zweifler und Gegner nahm zu, je länger der Beginn der Verhandlungen auf sich warten ließ. Erst zwei Jahre nach dem Doppelbeschluss wurden die Gespräche am 30. November 1981 in Genf eröffnet. Danach zogen sie sich endlos hin. Die »Friedensbewegung« im Lande erhielt immer mehr Zulauf. Mutlangen, wo die Amerikaner die ersten Pershing-II-Raketen aufstellten, wurde zum Zentrum vehementen Protestes. Schmidt war schon ein Jahr lang nicht mehr Kanzler, als eine Million Menschen in Bonn gegen die Nachrüstung protestierten, darunter auch Willy Brandt und eine halbe Hundertschaft sozialdemokratischer Bundestagsabgeordneter. Schmidt hatte keine Mehrheit mehr in der eigenen Partei und Fraktion. Wie zuvor in der Wirtschaftspolitik versagten sie ihm auch in der Sicherheitspolitik die Gefolgschaft. Auf dem Kölner Parteitag im November 1983 stützten gerade noch 14 Abgeordnete seine Position.
Die Geschichte hat Helmut Schmidt recht gegeben. Seine Weitsicht, seine Konsequenz zahlten sich aus. Zehn Jahre nach seiner Londoner Rede, vier Jahre nach seinem Sturz widerfuhr ihm die Genugtuung, dass Michail Gorbatschow sich im INF-Vertrag (über die nuklearen Mittelstreckenwaffen, Intermediate Range Nuclear Forces) auf die von Schmidt von allem Anfang an erstrebte »Nulllösung« einließ: Alle SS-20 und alle Pershing-II-Raketen wurden danach abgeschafft. Zum ersten Mal überhaupt wurde damit eine ganze Kategorie von Waffensystemen aus dem Verkehr gezogen.
Der Terrorismus forderte Schmidt von Anbeginn seiner Kanzlerschaft heraus. Zuweilen sah es so aus, als könnte die Rote Armee Fraktion, rekrutiert von Ulrike Meinhof und Andreas Baader, Staat und Gesetz ins Wanken bringen. Die Liste ihrer Untaten ist lang. November 1974: Mord an dem Berliner Kammergerichtspräsidenten von Drenkmann; Februar 1975: Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz und Freipressung von fünf Terroristen; April 1975: Überfall auf die Botschaft der Bundesrepublik in Stockholm, zwei Todesopfer; April 1977: Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback; Juli 1977: Mord an Jürgen Ponto, dem Vorstandsvorsitzenden der Dresdner Bank. Und am 5. September 1977 fuhr Hanns Martin Schleyer, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, in eine Falle: Terroristen erschossen seinen Chauffeur samt drei Polizisten und entführten Schleyer in einem VW Bus.
Sieben Wochen lang hielt die Schleyer-Krise die Bundesrepublik in Atem. Sie spitzte sich dramatisch zu, als am 13. Oktober die Lufthansa-Maschine Landshut mit 82 Passagieren und 5 Besatzungsmitgliedern auf dem Flug Palma–Frankfurt von einem Palästinenserkommando entführt wurde. Harte Unnachgiebigkeit gegenüber den Forderungen der Terroristen bei aller taktischen Flexibilität und Finesse hielt der Kanzler für den einzig möglichen Weg. Aber letztlich war ihm von Anfang an bewusst, dass er durch Handeln wie durch Unterlassung schuldig werden konnte. Als er den Befehl zur Erstürmung der Landshut auf dem Flugplatz der somalischen Hauptstadt Mogadischu gab, wusste er, dass er ein hohes Risiko einging. Es hätte viele Tote geben können. Aber wenn die Regierung in der Doppelkrise hart blieb, musste sie gerade deswegen das Äußerste tun, um das Leben der Geiseln zu retten – danach trachten also, Schleyer und die Lufthansa-Gefangenen gewaltsam zu befreien. Allein in der Aktion – und der Chance ihres Gelingens – lag die moralische Rechtfertigung der Härte.
Das Unternehmen Mogadischu gelang; außer den Gangstern kam niemand bei dem Befreiungscoup des GSG-9-Kommandos zu Schaden. Am 18. Oktober um 0.12 Uhr gab Hans-Jürgen Wischnewski dem Bundeskanzler telefonisch aus Mogadischu durch: »Die Arbeit ist erledigt.« Seine Vertrauten wurden Zeugen, wie Schmidt Tränen in die Augen stiegen. Nur er selber wusste: Wäre das Unternehmen fehlgeschlagen, so hätte ihm niemand seinen sofortigen Rücktritt ausreden können.
Noch lagen schwere Stunden vor ihm. In der Nacht begingen die zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Terroristen Baader, Raspe und Ensslin in Stammheim Selbstmord. Tags darauf wurde die Leiche Hanns Martin Schleyers im Kofferraum eines in Mülhausen abgestellten Personenwagens aufgefunden. Dem Sieg von Mogadischu folgte die Niederlage von Mülhausen. Schmidt nahm die Verantwortung auf sich. Er trug nicht leicht daran. Die Schutzpflicht des Staates für den Einzelnen hatte er abzuwägen gehabt gegenüber der Schutzpflicht des Staates für die Gesamtheit aller Bürger. »Unausweichlich befanden wir uns damit im Bereich von Schuld und Versäumnis«, bekannte er vor dem Bundestag.
Als Helmut Schmidt Kanzler wurde, war sein schwarzes Haar noch kaum angegraut; als er aus dem Bundeskanzleramt auszog, war es weiß geworden. Wie Metternich mag er sich als Arzt im großen Weltspital empfunden haben, der das Elend nicht zu steuern vermochte. Er war nicht autoritär wie Adenauer. Er stürmte nicht heilsgewiss voran wie Brandt. Er setzte auf die Vernunft, der er mühsam eine Klientel zu schaffen suchte; ein schwieriges Unterfangen in einer Zeit, in der das Zerbröseln des gesellschaftlichen Konsenses Führung immer schwieriger machte. Aber Schmidt tat seine Pflicht, und er tat sie mit Anstand, Würde und Stil.
Indem er das Werk von Konrad Adenauer und Willy Brandt fortsetzte und umsetzte in Praxis und Alltag, etablierte Schmidt recht eigentlich erst eine bundesrepublikanische Staatsräson und eine fortwirkende Tradition Bonner Regierungshandelns. Was bis dahin parteipolitisch umstritten war, verschmolz unter ihm zu einer erkennbaren und handhabbaren Einheit: Westpolitik und Ostpolitik, Bündnistreue und Nachbarschaftspflege, Verteidigungswille und Abrüstungswille. Und mehr als irgendeiner seiner Vorgänger baute er die Bedürfnisse der westdeutschen Wirtschaftskraft in Bonns weltpolitisches Konzept ein. Helmut Schmidt war ein starker Bundeskanzler. Seine Größe ist von anderer Art als die des ersten und des vierten Kanzlers, weil seine Zeit von anderer Art war. Krisenmanagement verlangte sie, nicht Architektonik. Diesem Gebot unterwarf sich Schmidt, auch wenn er sich vielleicht eine andere Epoche des Wirkens gewünscht hätte.
Auf der Weltbühne vertrat Helmut Schmidt die deutschen und europäischen Interessen mit respektheischender Konsequenz, Eloquenz und Effizienz. Auf der heimischen Bühne versuchte er, auch in schwierigen Zeiten einen Begriff von Rationalität in der Politik aufrechtzuerhalten, der einen Schutzpanzer bot gegen modische Anwandlungen und emotionale Aufwallungen. Dies war wohl seine herausragende Leistung: dass er die Westdeutschen in die Normalität einübte, sie an das Unspektakuläre gewöhnte, ihnen inmitten aller schlimmen Krisen Sinn für Augenmaß und Mitte gab. Seine Maxime war: »In der Politik hat keine Emotion und keine Leidenschaft Platz außer der Leidenschaft zur Vernunft.«
Dieser Leidenschaft hat er auch in dem Vierteljahrhundert gelebt, das seit seinem Ausscheiden aus dem Kanzleramt vergangen ist. Anders als die meisten Exkanzler hat er sich nicht damit begnügt, Memoiren zu schreiben; schon gar nicht hat er sich in Spinnereien und Spintisierereien über die Gründe und Hintergründe seines Sturzes verbissen. Er ist auch »außer Dienst« – so auch der Titel seines jüngsten Buches – politisch aktiv geblieben, meinungsstark und einflussreich.
Einem Angebot des Verlegers Gerd Bucerius folgend, kam er im Mai 1983 als Herausgeber zur ZEIT. Wie Bismarck, der die Journalisten zeitlebens als »Pressebengel« gescholten hatte und der dann nach seiner Entlassung sich ständig in den Hamburger Nachrichten ausließ, hatte Schmidt die Journalisten gern als »Wegelagerer« beschimpft, wechselte dann aber ebenfalls auf die andere Seite der Barrikade: in die Publizistik.
Seit 25 Jahren ist er mittlerweile bei der ZEIT – dreimal so lang, wie er Bundeskanzler war. In diesen 25Jahren hat er rund 250 tragende Artikel geschrieben – zur grand strategy des Westens, zur Europapolitik, zur Bewältigung der Wiedervereinigung, zu Menschenrechten und -pflichten, zu den Fehlentwicklungen des Kapitalismus, den er früh schon »Raubtierkapitalismus« oder »Kasinokapitalismus« nannte. Alle boten sie zugleich Analyse, Orientierungshilfe und Handlungsanweisung. Und alle fanden sie rund um den Globus Beachtung.
Helmut Schmidt hätte des Sockels der ZEIT nicht bedurft, um sichtbar zu bleiben und gehört zu werden. Ihm standen vielerlei andere Plattformen zur Verfügung: das Interaction Council, ein gewichtiger Zusammenschluss ehemaliger Staats- und Regierungschefs; die von ihm gegründete Nationalstiftung; das Kuratorium der ZEIT-Stiftung; die Hamburger Freitagsgesellschaft und die Berliner Neue Mittwochsgesellschaft. Und seine bald 30 Bücher, die alle auf den Bestsellerlisten landeten, erreichten weltweit ein Millionenpublikum.
Mit seinen 90 Jahren ist Helmut Schmidt für viele Menschen im Lande eine vertrauenswürdige Auskunftsperson, ein verlässlicher Ratgeber, ein leuchtendes Vorbild – eine einzigartige Stimme der abwägenden Ratio und des unbestechlichen Urteils. Immer schon war er mehr als ein Parteipolitiker: ein Staatsmann nämlich. Als Elder Statesman ist er über allen Parteien eine politisch-moralische Instanz geworden. Deutschland wäre ärmer ohne ihn.
Theo Sommer, Editor-at-Large, war von 1973 bis 1992 Chefredakteur der ZEIT
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Thema: Auf dreizehn Zigaretten mit Helmut Schmidt Fr Feb 26, 2010 8:26 pm
Helmut Schmidt zum 90. Auf dreizehn Zigaretten mit Helmut Schmidt
Seit einem Vierteljahrhundert nimmt Helmut Schmidt an der Konferenz des Politikressorts der ZEIT teil. Er kommt gut vorbereitet – Schludrigkeiten im Blatt entdeckt er fast immer. Sein schlimmster Vorwurf: "Ihr psychologisiert!"
Er ist immer einer der Ersten. Wenn er den »Kleinen Konferenzraum« im 6. Stock des Hamburger Pressehauses betritt, wendet er sich nach links. An der Längsseite des Tisches, mit Blick auf den Hafen und das Spiegel- Hochhaus, lässt er sich auf den mittleren Stuhl fallen, den Gehstock legt er rechts unter seinen Sitzplatz. Dann gießt er sich einen Kaffee ein, klopft eine Prise Schnupftabak auf den linken Handrücken, lehnt sich zurück. Die Konferenz kann beginnen.
Freitagmittag um zwölf tagt das politische Ressort der ZEIT. Seit einem Vierteljahrhundert ist dies die Konferenz von Helmut Schmidt. 1983 holte ZEIT- Gründer Gerd Bucerius den im Jahr zuvor aus dem Amt geschiedenen Bundeskanzler zum Blatt. An anderen Konferenzen der Redaktion nimmt der Herausgeber Schmidt nicht teil, an dieser immer.
Er kommt gut vorbereitet, legt die neueste Ausgabe der ZEIT vor sich. Lange Passagen sind sorgfältig gegelbt: Schmidts Assistentin Birgit Krüger-Penski weiß, was ihm wichtig ist, was er nicht übersehen möchte. All das markiert sie mit dickem gelbem Stift. Aber Schmidt lässt nicht nur lesen, er liest selbst. Und zwar sehr genau. Für die Tischrunde interessanter – und konfliktträchtiger – sind deshalb seine eigenen handschriftlichen Notizen, mit grünem Filzstift an den Rand der Artikel geschrieben. Da sind ihm Widersprüche oder Schludrigkeiten aufgefallen. »Was meinen Sie damit?«, will er dann wissen, oder: »Ist das Ihr Ernst?« Wenn der Redakteur antwortet: »Das ist mein voller Ernst!«, dann hat er nicht nur die Lacher auf seiner Seite, sondern dann gehört ihm auch die Anerkennung Schmidts. Widerspruch, wenn er denn von Fakten gestützt ist, gefällt ihm. Beflissene Zustimmung langweilt ihn eher. Hat sich der Streit erschöpft, hat jeder auf seiner Meinung beharrt, resümiert er gern lächelnd: »We agree to disagree.«
Manchmal wird der Gehstock unter dem Tisch hervorgeholt. Dann angelt Schmidt eine weit entfernte Zuckerdose herbei oder ein Milchkännchen. Meistens geht das gut. Die Konferenz verfolgt das Manöver mit Spannung. Schmidt lebt von Kaffee und Zigaretten. Vielen Zigaretten! Auf dreizehn hat er es in anderthalb Konferenzstunden schon gebracht. Halb erstickt hat das Ressort mitgezählt. Dreizehn Zigaretten in anderthalb Stunden, eine Zigarette alle sieben Minuten. Das muss man erst mal überleben. Ihm scheint es gutzutun.
Seit einigen Jahren trägt Helmut Schmidt ein Hörgerät. Der akustische Nachteil verschafft ihm rhetorisch bisweilen einen Vorteil. »Hab ich nicht verstanden«, heißt dann in Wahrheit: Sekunde bitte, lasst mich mal nachdenken! Aber oft genug versteht er wirklich kaum etwas: Die Jungen nuscheln, und alle reden durcheinander. »Wie bei den Jusos!«
In Wahrheit liebt er es, wenn es hoch hergeht. An guten Tagen attestiert er der Runde, die Debatte sei anspruchsvoller als damals am Kabinettstisch. An schlechten Tagen blafft er: Naiv! Ahnungslos! Unverantwortlich! Verrückt! Dann kann er so laut werden, als habe er den ganzen Bundestag vor sich, nicht nur zwölf ZEIT- Redakteure.
Sein schlimmster Vorwurf: »Ihr psychologisiert zu viel!« Soll heißen: Weil ihr von der Sache nichts versteht, flüchtet ihr euch ins Menschelnde. Psychologisierende Journalisten! Findet er »zum Schießen«. Braucht er nicht! Braucht auch sonst keiner! Aufs Psychologisieren versteigt sich der, der die Fakten nicht kennt. Der seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Findet man ja öfter in diesem Gewerbe.
Nie würde Helmut Schmidt sich einen Journalisten nennen – »Journalist« hamburgisch ausgesprochen, mit kurzem, trockenem J, wie Junge, Junge. Journalisten reden über Dinge, von denen sie wenig verstehen, zu denen sie aber eine klare Meinung haben. Nein, Journalist könne er schon deshalb nicht werden, hat er mal gespottet, weil er es sich nicht abgewöhnen könne zu arbeiten. Dabei hat er manche Zeitungsleute sehr geachtet, schätzt andere bis heute: Marion Gräfin Dönhoff etwa, seine verstorbene Herausgeberkollegin, mit der ihn eine jahrzehntelange Freundschaft verband; Kurt Becker, den ehemaligen Politikchef der ZEIT, den er als Pressesprecher nach Bonn holte; Theo Sommer, den Alleskönner, der ein halbes Jahr für den neuen Verteidigungsminister Schmidt auf der Hardthöhe das erste Weißbuch der Bundeswehr erarbeitete – mit ihnen allen saß er an diesem Konferenztisch am Hamburger Speersort zusammen. Auch mit Christoph Bertram, Nina Grunenberg, Dieter Buhl.
Heute hört er den Jungen zu. Nicht immer geduldig. Denn er versteht sie manchmal nicht. Akustisch nicht und auch nicht politisch. Weil sie zum Beispiel im Kongo intervenieren wollen oder in Darfur. Weil sie so leichtfertig vom Krieg reden. Das bringt ihn auf die Palme. Was geht uns der Kongo an! Oder Georgien! Oder Afghanistan! Aus der Haut fahren könnte er da. Er hat doch »die ganze Scheiße« unter »Adolf Nazi« an der Ostfront miterlebt!
Es gibt Thesen, die hat er erstmals in der Freitagskonferenz formuliert, hat sie gewissermaßen dort ausprobiert. Die Bedrohung, beispielsweise, die vom »Raubtierkapitalismus« ausgehe. »Beaufsichtigt die neuen Großspekulanten!«, forderte er schon im Februar 2007 in der ZEIT. Er wusste sich in seiner Strenge einig mit Marion Dönhoff, die fast zwanzig Jahre lang in der Freitagskonferenz rechts neben ihm saß. »Zivilisiert den Kapitalismus!«, verlangte sie viele Jahre vor Ausbruch der internationalen Finanzkrise. Wie »die Gräfin« kann er sich erregen über Gier und Exzesse; er kann wüten über die Hunderttausende von Derivaten, die auf dem Finanzmarkt in Umlauf seien und die keiner geprüft und zugelassen habe. »Ein Skandal!«, wettert er und greift grimmig zur halb leer gerauchten Packung Reyno.
Wen er mit Verachtung strafen will, dessen Namen merkt er sich nicht. Oder tut jedenfalls so. Das gilt für die Außenminister zwischen Genscher und Steinmeier genauso wie für manchen Redakteur, mit dem er vielleicht schon seit Jahren zusammen am Konferenztisch sitzt. Wenn ihn aber ein Neuer beeindruckt, dann beugt er sich herüber und fragt flüsternd: »Wer ist der junge Kollege?«
Im Sommer lässt er sich vom Brahmsee in weißen Hosen und weißen Schuhen zum Speersort fahren. Freitags um zwölf ist Konferenzzeit. Da ist er eisern. Und auf eine anrührende Weise treu. Manchmal sitzen in den Ferienwochen nur drei, vier Redakteure mit am Tisch, dazu noch ein schüchterner Hospitant. Stört ihn nicht die Bohne. Solange der Gesprächsstoff ihn interessiert. Er will lernen, auch noch mit neunzig. Deshalb sucht er das Gespräch, deshalb arbeitet er bis tief in die Nacht. Neugierig ist er, das zumindest ist der Journalist in ihm.
Ein Vierteljahrhundert lang sitzt er nun dabei. Es ist längst seine Konferenz geworden, und manchmal ertappt man sich bei dem Gedanken, dass man sich die Runde ohne ihn gar nicht vorstellen mag. Einer muss doch die Jungen anraunzen, sie sollten nicht so nuscheln! Und nicht so viel psychologisieren!
Noch liest er dem Kollegium mit Lust die Leviten. Die Artikel (Schmidt sagt: »die Aufsätze«) sind ihm zu lang, die Überschriften zu reißerisch, die Bilder eigentlich überflüssig! Und wenn man schon überall intervenieren wolle, dann solle man bitte eine Landkarte zum Text stellen. »Weiß doch kein Mensch, wo Kosovo liegt!«
Es ist 13.30 Uhr. Der Aschenbecher ist voll, die Kaffeekannen sind leer. Helmut Schmidt beugt sich nach rechts unter seinen Stuhl, zieht den Gehstock hervor, erhebt sich ächzend. Als Letzter verlässt er den Konferenzraum: »Schönes Wochenende.«
Matthias Naß, 1952 geboren, ist stellvertretender Chefredakteur der ZEIT
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Thema: Die andere Seite des Realisten Fr Feb 26, 2010 8:27 pm
Die andere Seite des Realisten
Beileibe nicht nur Politik: Helmut Schmidt als Publizist, Pianist und Privatmann
Ein Besuch im Ferienhaus am schleswig-holsteinischen Brahmsee: Barocke Harmonie in F-Dur klingt durch das kleine Wohnzimmer. »Was für eine wunderbare Aufnahme«, lobt der Besucher. »Das ist keine Aufnahme«, stellt die Gastgeberin klar, »das ist Helmut.« Nach einem Blick auf das grün leuchtende Display des CD-Spielers ein zweifelndes »Wirklich?«. »Ja, das ist er, nebenan in seinem Arbeitszimmer.«
Dort, hinter verschlossener Tür, saß er am Klavier und fantasierte über Johann Sebastian Bachs Italienisches Konzert, eine Musik, die er selbst nur noch verzerrt wahrnahm, von der er jedoch wusste, wie sie sich einmal angehört hatte.
»Die große Tragödie meines Alters« hat Helmut Schmidt einmal den weitgehenden Verlust seines Gehörs genannt. Die Klage, weniger Mitleid heischend denn als unabwendbare Tatsache gemeint, steht für einen tiefen Einschnitt in seinem Leben. Gewiss, vieles von dem, was an ihn herangetragen wird, möchte er gar nicht so genau, manches womöglich überhaupt nicht hören. Aber Musik nicht mehr erfahren, nicht mehr genießen zu können ist vielleicht der bitterste Tribut, den er seinen 90 Jahren entrichten muss.
Sein Schmerz über die Einbuße an musischem Erleben mag nicht zu den Vorstellungen passen, die viele Menschen vom ehemaligen Bundeskanzler hegen. Helmut Schmidt, der kühle Realist und kundige Deuter der Weltläufte, als Freund der Musik, der Klavier spielt, um sich an Melodien zu erinnern, die für ihn seit Langem verhallt sind? Seine Auftritte in der Öffentlichkeit lassen in der Tat keine überbordende Empfindsamkeit erwarten. Kennen ihn die Fernsehzuschauer nicht als gelegentlich so schroff und kurz angebunden (was ihren Respekt freilich nicht mindert), dass ihnen die Interviewer leidtun? Ist die Zahl derer nicht Legion, die sich in freudiger Erwartung auf ihn stürzen, um dann seinen gleichgültigen, mitunter gar abweisenden Blick ertragen zu müssen?
Wie stark seine Haltung von hanseatischer Nüchternheit, von Selbstschutz vor aufdringlicher Verehrung oder schlicht von Arroganz bestimmt ist, wird nur Helmut Schmidt selbst wissen. Als besonders zartfühlend jedenfalls galt und gilt er nur wenigen.
Auch als Politiker und Staatsmann hat er keinen Eindruck von ausgeprägtem Feingefühl hinterlassen. War er nicht der schneidige Draufgänger (»Schmidt-Schnauze«) in zahllosen Bundestagsschlachten? Hat er nicht hart und entschlossen staatsgefährdende Krisen gemeistert? Und ist er nicht erst vor Kurzem zum »coolsten Kerl« Deutschlands gekürt worden, und das sicher keineswegs nur, weil er vor laufender Kamera pausenlos Zigaretten raucht, sondern auch, weil er sich unvergleichbar lakonisch gibt?
All diese Erinnerungen und Eindrücke gehören zu Recht zur Momentaufnahme wie zur Legende Helmut Schmidt. Dennoch bleibt das scharf konturierte Bild unvollständig. Es unterschlägt den Mann, der zu tiefer Freundschaft fähig ist und der durchaus sentimental sein kann. Seine vielfältigen Interessen und Begabungen, vor allem aber seine Liebe zu den Künsten blendet die schon historisch verbrämte Impression vom Tatmenschen Schmidt beinahe völlig aus. Dabei hebt er sich gerade durch die vielen Facetten seiner Persönlichkeit ab von den oft eindimensionalen Mitgliedern der politischen Kaste. Sein Lebensweg, ob in der Politik oder danach, lief nie stur auf ein Ziel zu. Er gestattete sich immer Abzweigungen, auf denen er neues Wissen oder lehrreiche Erfahrungen, Erbauung oder einfach Freude gewinnen konnte.
Seine große Liebe gilt sicher der Musik. Auch wenn er sie heute trotz eines modernen Hörgerätes nicht mehr erleben kann, bleiben ihm beim Klavierspiel – »zwei- bis dreimal in der Woche, zur Entspannung« – die Vorstellung und die Erinnerung. Die musikalische Prägung wurzelt in dem kleinbürgerlichen, später bessergestellten Haushalt des aufstrebenden Pädagogen Gustav Schmidt. Zwar erzog er seine Söhne Helmut und Wolfgang mit harter Hand (und gelegentlich mit dem Meerrohr), aber es gab Raum für musische Entfaltung. Dafür sorgten Mutter Ludovica mit einem Hang zur Kunst und ihre Großfamilie Koch. Wenn deren Mitglieder zusammenkamen, wurde gern und viel gesungen. Unter Leitung des Onkels Ottomar, eines Volksschullehrers, ertönten drei- und vierstimmige Gesänge, bei denen sich der von den Verwandten verwöhnte Erstgeborene durch einen ordentlichen Bariton hervorgetan haben soll.
Eine Vertiefung seiner künstlerischen Neigungen und Ermutigung zu selbstständigem Denken erfuhr Helmut Schmidt (wie auch Hannelore »Loki« Glaser) in der Hamburger Lichtwark-Schule (benannt nach Alfred Lichtwark, einst Direktor der Hamburger Kunsthalle). Noch heute schwärmen beide von dem Schatz an Erfahrungen, den sie dort durch den Unterricht oder in Arbeitsgruppen für Musik, Theater und Literatur gewannen. All die vielen, die sich in der Schule »unterm Rad« gefühlt haben, könnten dieses dankbare Erinnern für nostalgische Verklärung halten. Doch die koedukative Reformschule mit ihren zwei Chören und zwei Orchestern, mit Lehrern, die ihren Klassen nicht nur Bach und Beethoven, sondern auch Carl Orff und Kurt Weill nahebrachten, war in den dreißiger Jahren tatsächlich eine fast einmalige Institution. Wo sonst hätte der 17-jährige Helmut lernen können, in einer sogenannten Jahresarbeit zwanzig vorgegebene Melodien in vierstimmigen Choralsatz zu setzen?
Das musikalische Fundament, das die Lichtwark-Schule legte, hat beide Schmidts bis ins hohe Alter getragen. Besonders Helmuts Vorlieben reichen durchaus über die Klassiker hinaus bis zum Swing und zu den Beatles. Vor allem Dave Brubeck hat es ihm angetan; wahrscheinlich auch deshalb, weil dessen moderner Jazz an die Präzision seines Lieblingskomponisten Bach erinnert. Berührungsangst vor unterhaltsamen Klängen hat Helmut Schmidt offenbar nie gekannt. Das zeigte sich auch daran, dass er als Verteidigungsminister der Big Band der Bundeswehr zum Leben verhalf.
Ohnehin gebe es keine Wertunterschiede zwischen U- und E-Musik. Das hat jedenfalls Leonard Bernstein gegenüber dem damaligen Kanzler behauptet und wahrscheinlich dessen Zustimmung gefunden. Der amerikanische Dirigent und Komponist gehörte neben Herbert von Karajan, Kurt Masur und anderen musikalischen Größen zu den näheren Bekanntschaften, die Helmut Schmidt, wie er sich freudig erinnert, als Regierungschef ohne Mühen machen konnte. Die Begegnungen zählten zu den Atempausen während seiner Kanzlerschaft, denn für ihn war Musik stets mehr als akustischer Genuss, er preist sie vielmehr als »Geist und Leben«.
Mit fast dem gleichen Engagement, das er der Musik entgegenbrachte, hat er sich seit jungen Jahren für die bildende Kunst interessiert. Auch auf dem Gebiet der Malerei – seine eigenen Malversuche, hauptsächlich Landschaftsaquarelle, wurden als talentiert bezeichnet – hat ihm die Lichtwark-Schule weite Horizonte eröffnet. Die deutschen Expressionisten standen ganz oben auf dem Stundenplan. Als die Nationalsozialisten ihre Werke als »entartet« diffamierten, hat das dem heranwachsenden Schüler Schmidt – so deutlich wie bis dahin keine andere Erfahrung – den barbarischen Charakter des Naziregimes vor Augen geführt.
Die befohlene Verachtung gegenüber Malern wie Nolde, Pechstein oder Kirchner hat ihn denn auch nicht von seiner Bewunderung für die Gebannten abbringen können. Moderne Malerei faszinierte ihn. So ist der Rekrut Schmidt an »mindestens zwei Dutzend« Wochenenden von seinem Standort Bremen-Vegesack nach Fischerhude gefahren, wo ihm sein Lieblingsonkel Heinz den Kontakt zu einem Freund aus dem Ersten Weltkrieg hergestellt hatte.
Die »einzige geistige Oase in der Nazizeit« sei die Künstlerkolonie für ihn gewesen, hat er später geschrieben. Es ist durchaus nachvollziehbar, wie wohl sich der junge Soldat unter den Malern und Bildhauern fühlte, die so ganz anders lebten und dachten, als er es aus seinem Barmbeker Vaterhaus gewohnt war. Ihm erschienen die Künstler als »Suchende, aber zugleich strahlten ihre Bilder Einfachheit aus, Ausgewogenheit, Ruhe, Kraft«. Otto Modersohn oder Olga Bontjes kannten die Kunst der Welt, und sie ließen den aufgeschlossenen jungen Mann an ihrem Wissen und Denken teilhaben. Dass sie tolerante, weltoffene Menschen und keine Nazis waren, hat ihn zusätzlich beeindruckt.
Den Malern, die unter den Nationalsozialisten verachtet und verboten worden waren, hat er als Bundeskanzler auf besondere Weise Genugtuung verschafft. Nicht nur hingen in seinem Arbeitszimmer ein großes Gemälde von Emil Nolde und in einem benachbarten Besprechungsraum Worpsweder Bilder, sein Bonner Amtssitz wurde auch zum Schauplatz wechselnder Ausstellungen. Ob August Macke, Ernst Barlach, Käthe Kollwitz oder Max Ernst gezeigt wurde, der Regierungschef ließ es sich nicht nehmen, die Ausstellungen mit Reden zu eröffnen, die Bekenntnissen zur darstellenden Kunst gleichkamen.
Die Kunstaktionen im Kanzleramt symbolisierten vielleicht am eindringlichsten die zwei Seiten der Schmidtschen Persönlichkeit. Hier der »Leitende Angestellte der Republik«, der zahllose politische Herausforderungen zu meistern hatte und der sein Amt oft bis zur Erschöpfung ausübte, dort der Liebhaber der Künste, der sich intensiv um Ideen und Pläne für künstlerische Ereignisse am Regierungssitz kümmerte (wie auch um die Installierung einer Skulptur von Henry Moore vor dem Kanzleramt) – und der die Texte seiner Eröffnungsreden ganz offensichtlich keinem Ghostwriter überließ.
Als »Selbstdarstellung« des Kanzlers hat eine konservative Zeitung die Ausstellungen einmal bemäkelt. Das war sicher eine Fehlbehauptung. Obwohl es dem Politiker Schmidt nie schwergefallen ist, sich ins rechte Licht zu rücken, hier ging es ihm um etwas anderes: Mit der Präsentation deutscher Meisterwerke wollte er dem Kanzleramt (das ihn an die Zentrale eines Sparkassenverbandes erinnerte) ein wenig Glanz verleihen, die »bönnsche« Provinzialität konterkarieren und den Deutschen die von Nationalsozialisten verfolgten Künstler ans Herz legen; außerdem wollte er sicher auch, wie bei seinen Gesprächen mit Schriftstellern oder bei gelegentlichen Hauskonzerten im Palais Schaumburg, der viel beklagten Dichotomie zwischen Macht und Kunst begegnen.
»Kunst sollte, so denke ich, zum täglichen Leben gehören«, hat er bei einer der Vernissagen gesagt und sich im gleichen Atemzug einen »Lebenskünstler« genannt. Damit wollte er sich gewiss nicht im eigentlichen Sinne des Wortes als Bruder Leichtfuß charakterisieren, vielmehr wohl betonen, welche Rolle die Künste in seinem Leben spielen. Für viele, die ihn damals vornehmlich als politischen Technokraten und eisenharten Machtmanager gesehen haben, muss das Bekenntnis eine Überraschung gewesen sein. Seine vielfältigen künstlerischen Neigungen und Talente belegen gleichwohl, dass es für ihn einen Lebensinhalt neben der Politik gab.
Erhellend wirkt in diesem Zusammenhang ein Gespräch, das Helmut Schmidt 1968 als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion mit einem Kolumnisten dieser Zeitung führte. Ben Witter, der oft recht sibyllinische Texte verfasste, erwies sich bei dieser Gelegenheit als Prophet. Nicht nur antwortete er auf die Bemerkung Schmidts »Ich sehe mich nicht als Kanzler«: »Sie werden geholt.« Er sagte dem Politiker auch voraus, womit er sich nach Ende seiner Karriere beschäftigen werde: »Sie werden schreiben.«
Geschrieben hatte er freilich schon vorher. Als Verkehrsdezernent des Hamburger Senats hatte er sich in den frühen fünfziger Jahren gemeinsam mit anderen Autoren Gedanken über das damalige Verkehrssystem gemacht. In dem 1954 von ihm mit herausgegebenen Wegweiser durch die Verkehrswirtschaft und ihre Ordnung erwies er sich bereits als überzeugter Pragmatiker, weil er im dogmatischen Streit »zwischen Eisenbahn-Weltanschauung und Kraftverkehrsideologie« sachbetonte Orientierung bieten wollte. Auch für Zeitungen hatte er öfter zu politischen und wirtschaftlichen Fragen Stellung genommen. Noch heute wird gelegentlich sein anonymer Erweckungsartikel über Hamburg in der Welt vom Juli 1962 zitiert: »Aber ich liebe sie mit Wehmut, denn sie schläft, meine Schöne, sie träumt…«
Einen Durchbruch zum anerkannten Autor hatte er ein Jahr zuvor mit seinem ersten allein verfassten Buch Verteidigung oder Vergeltung geschafft. Die kritische Betrachtung der militärischen Nato-Strategie hält er heute für sein schwierigstes Buch, »weil mir die Routine fehlte«. Aber die Mühen des Verteidigungsexperten der SPD haben sich ausgezahlt, denn seine Sicherheitsanalyse fand auch außerhalb der Bundesrepublik Beachtung. Weitere Publikationen zur Sicherheitspolitik und zu anderen grundlegenden Fragen der Res publica festigten seinen Nimbus als einer der scharfsinnigsten Volksvertreter des Landes.
Ein solches Solitärgewächs der Politik in seine Redaktion zu verpflanzen muss den gelegentlich experimentierfreudigen Eigentümer der ZEIT ungeheuer gereizt haben. Dass er selbst konservativ-liberal gestimmt war, hat Gerd Bucerius jedenfalls nicht zögern lassen, einen ausgewiesenen Sozialdemokraten in sein Haus zu berufen. Ohne Zweifel hat sich die Verpflichtung des journalistischen Novizen als Glücksfall erwiesen. Der global geachtete Staatsmann hat nicht nur die lebenswichtige Aura dieses Blattes verfestigt, er fand sich auch überraschend schnell in der Welt der »Wegelagerer« zurecht. Daran, dass sich die Entscheidungsabläufe in einem Redaktionsbetrieb von denen in hierarchisch bestimmten Regierungsämtern sehr unterscheiden, hat er sich längst gewöhnt. Wenn er sich jeden Freitagmittag am Gehstock und unter Stöhnen (seine Hüften sind weitgehend lädiert, und er trägt den vierten Herzschrittmacher) durch die Flure des Pressehauses auf den Weg zur Politikkonferenz quält, erfüllt der Herausgeber Schmidt das, was er seine Pflicht nennt. Aber am Konferenztisch als Anreger und Mahner respektvolle Aufmerksamkeit zu finden wird ihn erfreuen, selbst wenn er sich manches Mal über die politische Unbefangenheit seiner weitaus jüngeren Kolleginnen und Kollegen wundern dürfte.
Der diskrete Stolz der Redaktion darauf, jemanden wie ihn in ihren Reihen zu haben, wird besonders dann sichtbar, wenn Helmut Schmidt zur Feder greift. Meistens muss er dazu gedrängt werden. Doch es lohnt sich. Mit seinen frühen und geharnischten Warnungen vor den Auswüchsen des internationalen Kapitalismus, seinem Werben für Respekt gegenüber China, seinen Philippiken gegen die Erweiterungsfantasien der Europäischen Union (Türkei, Ukraine) oder den Drang des Westens zur weltweiten Einmischung findet er große öffentliche Beachtung. Zum Leidwesen der Redaktion hält er sich mit Stellungnahmen zur aktuellen innenpolitischen Debatte weitgehend zurück; er findet letztlich jedoch Verständnis für die Weigerung, sich in seinem hohen Alter erwartbaren Ärger aus den Parteienlagern aufzuladen.
Seine andere, die besonders einfühlsame Seite wird dann spürbar, wenn er sich im Blatt zu Fragen der Kunst oder der öffentlichen Moral äußert. Sein Stil entspricht nicht dem modischen Maßstab von Schönschreibern. Dafür überzeugt er als Autor mit einer ungekünstelten, beinahe altertümlichen Sprache.
Mitunter wirkt diese Sprache ungewöhnlich anrührend, wie etwa in der Laudatio auf die hanseatische Theater-Ikone Ida Ehre. So schrieb er 1985 anlässlich der Verleihung der Hamburger Ehrenbürgerschaft an die bejahrte Prinzipalin über »ihre Beharrlichkeit im Willen, die Menschen zu bewegen, sie nachdenkend zu machen, sie zu erschüttern, sie zu trösten, sie lachen zu machen, sie zu unterhalten, sie in den Spiegel schauen zu lassen, ihnen das Leben zu zeigen, ihnen das schreckliche Leben zu zeigen, das gute Leben, die Süße und die Trauer des Lebens, die Komödie und die Tragödie, die Posse, das Drama – und die Logik des Lebens gleichermaßen. In einem Wort: Theater.« Aus diesen Zeilen spricht der seit seiner Jugend begeisterte Theatergänger, der heute noch die Regisseure oder Hauptdarsteller vergangener und herausragender Hamburger Aufführungen parat hat.
Ähnlich engagiert äußert sich Schmidt, sobald er sich mit Grundsatzproblemen dieses Landes beschäftigt. »Wollen wir Weltmeister im Jammern werden?«, fragt er etwa in kritischer Auseinandersetzung mit einer deutschen Anspruchsmentalität. Oder er erinnert an »das große Glück der Freiheit«, das im Zusammenhang mit Schwierigkeiten bei der Wiedervereinigung vergessen werden könnte. Dass er seine Artikel häufig mit Handlungsanweisungen garniert, versteht sich bei einem immer noch tatkräftigen Expolitiker wie ihm von selbst.
Wie viel geistige und physische Kraft er aufzubringen vermochte (und mit Altersabschlag weiterhin mobilisieren kann), lässt sich an der Vielzahl seiner Bücher ablesen. Helmut Schmidt, einer der produktivsten deutschen Autoren, hat über 30 Bücher veröffentlicht; teilweise sind sie auch in Form von Interviews erschienen. In ihnen spiegeln sich seine vielfältigen Interessenschwerpunkte und Kenntnisse wider. Sicherheitspolitik, Außenpolitik, die Weltwirtschaft oder die Grundwerte unserer Gesellschaft sind seine bevorzugten Themen. Nicht immer muss man seine Thesen teilen – beispielsweise wenn er Chinas Veranlagung zur Demokratie bezweifelt oder allzu grundsätzliche Fehler bei der Wiedervereinigung kritisiert –, immer jedoch sind seine Aussagen sachkundig untermauert und von unbeirrbarer Vernunft getragen.
Wer zusätzlich bedenkt, wie viele Reden (die er meistens handschriftlich vorbereitete) er im Laufe seines Lebens gehalten hat – allein die während seiner 30 Jahre im Bundestag schätzt er auf hundert –, der kann ermessen, wie viel Zeit Helmut Schmidt mit dem Kugelschreiber oder einem grünen Filzstift in der Hand am Schreibtisch verbracht hat. In der Einsamkeit seiner Arbeitszimmer, häufig nachts, manchmal bis zum frühen Morgen, werden ihm zwei seiner herausragenden Charakterzüge am meisten geholfen haben: eine stählerne Selbstdisziplin und ein unerschütterliches Pflichtgefühl. Den Maßstäben seiner Lieblingsdenker (die er sicher nicht bis ins Letzte studiert, deren Kerngedanken er aber dauerhaft verinnerlicht hat) – Immanuel Kant, Max Weber, Karl Popper und Mark Aurel – dürfte er mit seiner bisherigen Lebensleistung mehr als gerecht geworden sein.
Er hat freilich auch das Glück, in Hannelore, »Loki«, eine ebenso couragierte wie verständnisvolle Frau an seiner Seite zu haben. Trotz ihres eigenen und vielfältigen öffentlichen Engagements war sie ihm stets eine Stütze. »Es erschien mir das Vernünftigste«, hat sie einmal gesagt, »der Platz für ihn zu sein, von dem er wusste, da bin ich zu Hause.« Solange sie konnte, hat sie bei ihm für die »richtige« Ernährung gesorgt, und wenn er oft abends spät heimkommt, ist sie für ihn da. »Dabei«, und das nennt sie halb ernst »die Tragik ihres Lebens«, »bin ich ein Morgensinger und ist er eine Nachteule.« Besonders erfreut empfängt sie ihn, wenn er nach Hause kommt und sie mit schelmischem Grinsen fragt: »Willst du verhauen werden?« Doch so eindeutig sind die Siege und Niederlagen beim geliebten Schachspiel der beiden nun auch nicht verteilt.
Bei all der Fürsorge für ihren nicht ganz so pflegeleichten Mann hat sich Loki Schmidt jedoch nie als ein Heimchen am Herd verstanden. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war sie die Brotverdienerin, und seit sie Anfang der siebziger Jahre ihre Laufbahn als Lehrerin beendete, hat sie ein eigenes Programm verfolgt und ihre Liebe zur Natur zur Berufung gemacht. Mit großem Eifer und bei Expeditionen in oft wilde Gegenden sammelte sie Kenntnisse als Botanikerin, vor denen sich selbst hochmögende Naturwissenschaftler verneigen. Nicht ohne Grund wurde ihr der Professoren- und auch der Doktortitel ehrenhalber verliehen und das schöne Loki-Schmidt-Haus, ein Museum für Nutzpflanzen, im Hamburger Botanischen Garten gebaut.
Weil beide Ehepartner gemeinsame Neigungen hegen – Musik, Malerei, Archäologie, Ornithologie –, gleichzeitig aber immer auch unterschiedliche Schwerpunkte bei ihren Tätigkeiten setzen, fehlt ihnen nie der Gesprächsstoff. Dass sie füreinander interessant geblieben sind, dürfte ein Grund für die Stabilität ihrer Ehe sein, die die Eiserne Hochzeit schon hinter sich hat. Lokis Humor und ihre Wärme haben ein familiäres Umfeld geschaffen, in dem die Partnerschaft gedeihen konnte und in dem Loki trotzdem ihr Selbstbewusstsein nicht verbergen muss. Sie war ohnehin schon »stark«, als Frauen gemeinhin noch das »schwache Geschlecht« genannt wurden.
Heute sind Loki und Helmut Schmidt wahrscheinlich das am meisten bewunderte Paar der Republik. Sie tragen es mit Fassung. Der Doppelbungalow im eher kleinbürgerlichen Viertel Langenhorn, den sich auch ein Oberstudienrat leisten könnte, bezeugt ihre Genügsamkeit. Auch das kleine Ferienhaus am Brahmsee, wo Helmut Schmidt einst der einzigen ihm zugeschriebenen Sportart, dem Segeln, nachging, dürfte nur mittleren TUI-Standards genügen. Luxus ist ihnen tatsächlich fremd, obwohl sie sich ihn hätten leisten können. Der ehemalige Regierungschef hat mit seinen Büchern (fast alle Bestseller) und mit hoch dotierten Reden viel Geld verdient; Loki trägt mit ihren Büchern ebenfalls nicht unerheblich zum Familieneinkommen bei.
Reichtum haben die Schmidts dennoch nicht angesammelt, weder für sich noch für ihre in England lebende Tochter Susanne. Ein Großteil ihrer Einkünfte ist in die vom Exkanzler initiierte Nationalstiftung, in die Stiftung Naturschutz Hamburg und Stiftung Loki Schmidt (die auch die »Blume des Jahres« präsentiert) und in die Helmut und Loki Schmidt-Stiftung geflossen. Letztere soll dazu dienen, das Langenhorner Domizil, das der Stiftung überschrieben wurde, als Forschungsstätte zu erhalten. Hoffentlich nicht nur. Denn wie wunderbar wäre es, wenn irgendwann später bei Führungen von Schulklassen Zehn- oder Zwölfjährige mit Staunen erlebten, dass der Kanzler der Bundesrepublik weder in einer Villa noch gar in einem Palast gewohnt hat. Wenn sie gleichzeitig beim Blick auf die Wände und in die Regale des Hauses entdecken könnten, wie viele unterschiedliche Interessen und Vorlieben der einmal mächtigste Mann dieses Landes gehegt hat.
Dieter Buhl, geboren 1935, war von 1969 bis 2001 Mitglied der politischen Redaktion der ZEIT
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Thema: Helmut Schmidt zum 90. Fr Feb 26, 2010 8:28 pm
Helmut Schmidt zum 90. Die große Flut
Alles hört auf Schmidts Kommando: Wie sich der Hamburger Innensenator in der Hochwasserkatastrophe vom Februar 1962 als Krisenmanager bewährte. Eine Reportage
Bitte antworten Sie nur auf meine Frage, Kollege!« Helmut Schmidt ist hörbar in großer Form. Auf dem Befehlsstand in der Hamburger Polizeizentrale wird der neue Hamburger Innensenator seit der Katastrophennacht von seinen Senatskollegen stillschweigend als Primus inter Pares anerkannt. Bei der großen Lagebesprechung der Einsatzleitung muss sich auch Bürgermeister Nevermann, der fast unauffällig neben Schmidt sitzt, mehrfach militärisch knapp von der Seite anreden lassen. Schmidt läuft auf hohen Touren, seit er am frühen Samstagmorgen der vergangenen Woche bei der beschleunigten Rückkehr von einem Berlinbesuch in die vom Hochwasser eingekesselte Hansestadt eingeflogen wurde.
Die »Lage« in der Hamburger Polizeizentrale unterscheidet sich kaum von einer militärischen Stabsbesprechung. Nur eben: dass alle Überlegungen und Anordnungen eine »Wasserfront« betreffen und dass ein Zivilist das Kommando hat, obwohl die Uniformträger im überfüllten Raum überwiegen. Konteradmiral Rogge, der Befehlshaber im Wehrbereich I, hält Vortrag. Kurze Übersicht über die Einsatzgruppierung der von der Bundeswehr gestellten Hilfsverbände. Dann ein Vorschlag: Dienstverpflichtung der männlichen Bevölkerung für den Deichbau? Rogge berichtet: Soldaten der Bundeswehr hätten am zerstörten Deich arbeiten müssen, während daneben nietenbehoste Jugendliche den Fußball traten. »Nicht bei uns, Herr Rogge.« Schmidt stellt klar: Es gibt auf Hamburger Gebiet zu dieser Zeit neben den Deichen keinen Fleck, der fußballspielenden Freizeitgestaltern nicht nasse Füße einbrächte.
Schmidt will »einen Kopf auf jeden Nagel machen«
Die Frage der Dienstverpflichtung wird zurückgestellt. Aber der Deichbau steht obenan auf der Themenliste zur »Lage«. Hunderttausend Sandsäcke werden an einem besonders kritischen Punkt dringend gebraucht. Der Mann vom Rundfunk meldet sich, fünfhundert Säcke hat jemand angeboten. »Danke schön, das hilft uns nicht.« Schmidt will, wie er sagt, »einen Kopf auf jeden Nagel machen«, und nur große Nägel nimmt er selbst in die Hand. Für die Frage der hunderttausend Sandsäcke braucht er eineinhalb Minuten, bis er diesen Punkt abhaken kann. »Ich erwarte Vollzugsmeldung.« Ein Uniformträger in schlichter Feldbluse meldet sich ab: General von Baer muss nach Bonn zurück, der Luftwaffeneinsatz an der Wasserfront hat sich über alle Erwartung bewährt. 1130 Menschen haben die Hubschrauber gerettet, bei doppelt so hohen Windstärken, wie sie im Bordbuch eines Hubschraubers eigentlich auftauchen dürfen. Jetzt müssen die Maschinen, von denen bis zu hundert eingesetzt waren, dringend überholt werden. Die für die Inspektionsintervalle vorgeschriebene Flugstundenzahl ist durchweg weit überschritten worden. Eine Reserve bleibt in Fuhlsbüttel stationiert. »Wie lange brauchen Sie vom Alarm bis zur Einsatzbereitschaft?« Die Auskunft befriedigt den Innensenator, in hundert Minuten schlägt das Wetter nicht unbemerkt um.
Anfrage eines Verkehrsstrategen: Im Flaschenhals Freihafen rangiert die Bundesbahn mit zu langen Güterzügen; ob sie denn nicht mehr Loks einsetzen könne? Schmidt: »Ich meine, wir sollten der Bundesbahn in ihre Sorgen nicht zu viel hineinregieren.« Zettel werden hereingereicht, der Lagebericht aus Niedersachsen, die neueste Zahl der geborgenen Toten. Alarmmeldung, noch unbestätigt: Ist die einzige intakte Elbbrücke bei Lauenburg angeschlagen? Inzwischen erstattet der Pionieroberst Bericht. Die drei 50-Tonnen-Fähren der Bundeswehr über die Oberelbe sind in Betrieb. »Herr Mohr, an die Karte.« Der Bezirksamtsleiter des Katastrophenreviers Wilhelmsburg zeichnet einen Straßenbruch ein, fast unbemerkt fällt das Wort Bombentrichter. »Herr Philipp, wie lange brauchen Sie?« Der Oberst vom Einsatzstab Süd antwortet präzise. Und wieder Schmidt: »Ich erwarte Vollzugsmeldung.«
Hamburg hat zur rechten Zeit seinen Innensenator bekommen
Ein auffallend gesund aussehender Mann in feuerwehrblauer Uniform und in hohen Gummistiefeln hat das Wort, der Einsatzleiter der dänischen Froschmänner. Er ist sichtlich bekümmert. »Wir haben gestern zwei Tote geborgen, heute Morgen wieder zwei. Meine Leute sind in vierzig Häuser hineingeschwommen. Keine Leichen. Die Bewohner müssen sich auf die Dächer geflüchtet haben.« Jetzt fehlen dem Dänen, der fließend Deutsch spricht, dennoch die Worte. »Klarer Fall, Herr Kommandeur«, sagt Helmut Schmidt. »Die Menschen sind mit den Dächern abgetrieben worden.« Der Däne ist untröstlich: »Wir kommen auch mit dem Leichensuchgerät nicht durch.« Schmidt: »Natürlich nicht. Die Stacheldrähte der Schrebergärten und die Trümmer, wir wissen Bescheid. Aber wir möchten Ihnen doch sehr danken.«
Es ist schwül im Raum. Die Offiziere und die hohen Verwaltungsbeamten sind sichtbar von den Anstrengungen und der übermäßigen Arbeit der letzten Tage gezeichnet. Wie fast alle übrigen Teilnehmer dieser Besprechung zündet sich auch Helmut Schmidt eine Zigarette an der anderen an. »Ich bitte nur intelligente Fragen zu stellen.« Das gilt der Presse. Auch die Journalisten sind nach ihrem »Einsatz« während der letzten Woche nicht mehr in bester Verfassung. Aber auch sie nehmen dem Mann mit den tiefen Ringen um die Augen im geröteten Gesicht nichts übel. Hamburg hat zur rechten Zeit seinen Innensenator bekommen. Und wenn der beinahe zierlich wirkende Mann mit dem jungenhaften Haarschopf auch niemals den Reserveoffizier in Zivil verleugnet: Er hat Humor, und er nimmt selber nichts krumm. Die ganze Last der obersten Entscheidung liegt bei ihm, und er lässt niemanden daran zweifeln. Doch Bürgermeister Nevermann, ein wenig um seine Autorität besorgt, riskiert einen Scherz: »Aber das allerletzte Wort hat nach der Hamburgischen Verfassung noch immer der Senat, nicht wahr, Herr Schmidt?« Und Helmut Schmidts dröhnende Lache gibt das Einsatzzeichen für eine kurze allgemeine Entspannung bei der »Lage«. Die Leute hier haben sonst nichts zu lachen. Aus der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 24. Februar 1962