Der Mann, der den Beat brachte
Nachkriegstrauer, Spießertum, Freudlosigkeit: Anfang der sechziger Jahre war Deutschland eine verknöcherte Gesellschaft. Vor allem die Jugendlichen litten darunter. Dann kam Gerhard Augustin - und krempelte innerhalb weniger Nächte eine ganze Stadt um.
Es war die musikalische Hölle: Wir waren jung, wir waren heiß - aber im Nachkriegsdeutschland gab es nur diese öde Dudelmusik. Rudi Schuricke, Caterina Valente, später Conny Froboess, und drum herum die ganze spießige Eltern-Generation, die den Nationalsozialismus zu verantworten hatte. Diese Enge ertrug ich nicht, und zum Bund wollte ich erst recht nicht. Also wanderte ich im Februar 1962 in die USA aus: Mit einem Kohlefrachter fuhr ich über den stürmischen Atlantik von Rotterdam nach Norfolk, Virginia.
Zwei Jahre lebte ich in Amerika und lernte dort eine völlig neue Welt kennen. Ich rockte durch die Partyszene im New Yorker Greenwich Village und trampte auf der Route 66 von New York über Chicago, St. Louis, Oklahoma, New Mexico, Arizona und Nevada bis nach Hollywood - und zurück auf der Nordroute über San Francisco. Aber dann, am 22. November 1963, wurde ich vom Schlag getroffen, als Präsident Kennedy einem Attentat zum Opfer fiel. Wie Millionen anderer Menschen in Amerika erschütterte mich das völlig. Kennedy war der Prophet eines neuen Lebensstils gewesen, ein Hoffnungsschimmer für die Jugend, er war kosmopolitisch, kulturell, dynamisch und hat das Land verändert.
Aber jetzt war er tot. Aus dieser Erschütterung heraus hatte ich das starke Bedürfnis nach einem sicheren Boden - nach meiner Heimat. Eigentlich hatte ich an Weihnachten 1963 nur kurz meine Eltern in Bremen besuchen wollen, aber nun entschied ich mich dafür, wieder ganz nach Hause zu gehen.
Wir hungerten nach Rockmusik
Kaum wieder in Bremen angekommen, machte ich mich auf die Suche nach einer guten Abendunterhaltung. Da gab es das Varietee "Astoria", ein Gebäude mit mehreren Lokalen darin: die Bar "Bodega", den "Arizona Night Club", das Restaurant "Klosterkeller" und den "Zigeunerkeller", in dem italienische Kapellen mehr schlecht als recht zum Tanz aufspielten. Gut waren die nicht, aber die "Astoria"-Betreiber kostete so eine Kapelle trotzdem 15.000 Mark pro Monat.
Der Laden war jedoch alles andere als gut besucht. Wie hätte er es auch sein sollen? Die Musik war altbacken, die Stimmung mau. Es gab damals einfach keinen Ort, an dem junge Leute die Musik hören konnten, die sie hören wollten. Die heißen Platten aus Amerika und England, wie die Beatles und die ersten Stones-Songs, liefen nur in den Radiosendern der britischen und der US-Soldaten, BFBS und AFN. Wir jungen Leute hungerten nach dieser Musik!
Mir war klar, was ich tun musste. Am nächsten Tag ging ich ins Büro des "Astoria" und schlug den Herren und Damen der Geschäftsleitung meine Idee vor, um ihr Business aufzubessern: weg mit der italienischen Kapelle, dafür zwei Plattenspieler und vier Lautsprecher aufstellen, und dann nur noch heiße Scheiben spielen. Und zwar extralaut. Ich wollte die Platten auflegen und jeden Song anmoderieren. Denn die Leute wussten ja kaum etwas über die Bands, es gab keine Rock-Shows im Fernsehen (außer Chris Howlands "Studio B"), keine Fanclubs, kein Internet. Die Herrschaften im Büro sagten "Aha, aha" - und schlugen ein. Ich bekam meine Chance.
Heiße Scheiben für 1000 Mark
Also baute ich zwischen Weihnachten und Neujahr 1963 mit einigen Kumpels den Laden um: Aus dem "Zigeunerkeller" wurde der "Twen Club". Der Name war inspiriert vom "Twen"-Magazin, "Twen" stand für die reifere Jugend. "Teenager Club" hätten wir den Laden nicht nennen können, weil Jugendlich unter 18 Jahren damals nur bis 22 Uhr in Kneipen durften. Die Polizei kontrollierte das streng. In einem Plattenladen kaufte ich für 1000 Mark amerikanische und englische Platten: schnelle Cha-Chas, Rumbas und Rocksongs, die in den Monaten zuvor herausgekommen waren. "Money" und "I wanna be your man" von den Beatles", Lesley Gores "It's my party", aber natürlich auch Elvis-Klassiker wie "Don't be cruel und "Jailhouse rock".
Am Abend des 28. Dezember öffneten wir zum ersten Mal die Pforte. Das übliche Stammpublikum des "Zigeunerkellers" kam angetrottet: 40- und 50-Jährige, die bei Schunkelmusik ein Bier trinken wollten. Als sie die ungewohnte Rock-Musik hörten, suchten sie entsetzt das Weite. Ich drehte die Musik so laut, dass sie auf der Straße zu hören war. Das zog Jugendliche an, die draußen unterwegs waren. Die wurden neugierig, schauten rein - und waren hin und weg. Das war genau das, was sie immer gesucht hatten!
Innerhalb von vier Wochen war der "Twen Club" stadtbekannt. Jeden Abend, sieben Tage die Woche, hatten wir volles Haus. Mehr als 250 junge Leute, vor allem Oberstufenschüler und Lehrlinge, schwooften zu meinen Platten. Der Erfolg war so gewaltig, dass wir immer früher aufmachen mussten: erst um 20 Uhr, dann um 18 Uhr, dann um 16 Uhr. Schließlich öffneten wir schon mittags um 12 Uhr für Schüler und Lehrlinge, die ihre Cola in der Mittagspause bei Beat und Rock schlürften. Die Leute standen Schlange; erst wenn einer raus ging,
konnte wieder einer rein.
Pall Mall und Porsche
Und ich war so etwas wie der Star der Bremer Szene - weil ich die amerikanische Lebensart vorlebte: immer locker drauf, Pall Mall rauchend, lässig den feinen Anzug mit Turnschuhen kombinierend. Das guckten sich viele Jungs ab und kleideten sich auch so. Die Musik, die Klamotten, das Bedürfnis, aus der spießigen Enge ausbrechen zu wollen, das hat uns alle verbunden. Wir waren wie eine große Familie, die jeden Abend zusammenkam. Und sich dadurch natürlich auch nach außen, gegen die Elternhäuser und die verknöcherte Gesellschaft, abgrenzte.
Ich empfand Freiheit, Befriedigung, auch ein bisschen Macht, vor allem aber Freude darüber, dass ich so viele Menschen glücklich machen konnte. Als ich meinem Vater erzählte, dass ich jetzt Plattenjockey sei (so hieß das damals), war er entsetzt. Als Sparkassendirektor und ehemaliger Nazis hat er das einfach nicht verstanden. Nicht mal dann, als ich ihn und meine Mutter eines abends in den "Twen Club" mitnahm und ihm diese grandiose, vibrierenden Stimmung vorführte. Das Wichtigste aber: Er ließ mich gewähren.
Schon bald war ich eine lokale Berühmtheit. Der Laden und meine Gage Liefen so gut, dass ich mir einen Porsche Super 90 kaufen konnte. Einen gebrauchten zwar, aber immerhin. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich Dutzende Angebote anderer Bars und Restaurants, die nun plötzlich auch so einen Laden aufmachen wollten. Aber ich blieb dem "Twen Club" treu. Und eines abends kam dorthin der Radio-Bremen-Redakteur Mike Leckebusch, mit dem ich kurz darauf die erste deutsche Fernsehmusiksendung für Jugendliche gründete - den Beat Club. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die Rückkehr der Schallplatten
Einen spannenden Nachtrag gibt es aber: Nach Jahren im Ausland und in München kehrte ich 1996 in meine Heimatstadt Bremen zurück. Zehn Jahre lang machte ich wöchentliche Sendungen im " Offenen Kanal TV" und im Radio. Dort präsentierte ich meinen Bremer Freunden meine Erlebnisse der Vergangenheit, die ich audio-visuell festgehalten hatte.
Eines Tages rief mich Ralph Trinkel an, der 1967 meine Nachfolge als Discjockey im "Twen Club" angetreten hatte: "Hallo Gerd, du bist ja nun wieder in Bremen und machst geile Sachen im Offenen-Kanal-TV und im Radio.
Ich höre dich oft. Bei mir im Keller liegen noch einige alte Scheiben, die kannst Du gerne haben, wenn Du möchtest!" Klar wollte ich die haben - als alter Plattenfreak! Zwei Tage später kam Ralph und brachte mir diese 250 Platten, Singles und EPs, in zwei Plastiktüten verpackt. Neugierig packte ich sie sofort aus, um zu sehen, ob sich "Schätze" darunter befanden. Plötzlich wurde ich stutzig: Auf vielen Scheiben
prangten meine Handschrift oder mein Name!
Es waren meine alten Scheiben aus den sechziger Jahren, die ich damals im "Twen Club" aufgelegt hatte! Als Ralph Trinkel seinen Job als mein DJ-Nachfolger aufgegeben hatte, hatte er meine alten Scheiben mitgenommen, weil ihm der Club-Betreiber seine Überstunden nicht bezahlen wollte. Und nun
landeten meine geliebten "Erstlinge", die ich schon längst abgeschrieben hatte, tatsächlich wieder bei mir. Ich höre sie noch heute.